Schwindender Schnee und Lawinengefahr machen das Freeriden abseits der Skipiste schwierig. Bergführer in Engelberg setzen vermehrt auf eine innovative Lösung, um sicher ins Tal zu gelangen.
Das Vergnügen im Pulverschnee endet abrupt. Eben noch stob es bei jedem Schwung auf dem Laub, einer der legendären Freeride-Abfahrten von Engelberg. Doch nun hat der Bergführer Daniel Perret die Ski quergestellt, um anzuhalten. Sofort löst sich Nassschnee unter seinen Ski, rutscht und bleibt etwas weiter unten liegen. Die Stelle ist zu flach, um eine Lawine auszulösen. Doch in Sichtweite, nur zweihundert Meter weiter westlich, rauschen gerade Schneemassen den Hang hinunter und stürzen über die von der Sonne erwärmte Felswand in die Tiefe.
Hier unten, am Ende der Laub-Abfahrt, droht keine unmittelbare Lawinengefahr, doch der Schnee ist schwer. Er zerfällt leicht in Brocken, die so gross sind wie der Oberkörper eines Mannes. Skifahren bei diesen Schneeverhältnissen ist anspruchsvoll, und es benötigt Kraft, um Stürze und Verletzungen zu vermeiden.
Mit dem Skifahren ist es etwas weiter talwärts ohnehin vorbei: Hinter der Gerschnialp mündet der Hang in grünen Wiesen. Eine Situation, wie sie letzte Saison oft vorkam.
Freerider fahren durch unberührten Schnee abseits der markierten und kontrollierten Skipisten. In Engelberg haben sich in den vergangenen Jahren viele solcher Tiefschnee-Enthusiasten aus aller Welt niedergelassen. Der 4000-Einwohner-Ort hat sich neben Chamonix und dem Arlberg zu einem angesagten Ort für Freerider etabliert. Das liegt zum einen daran, dass es in Engelberg oft schneit. Die Berge um den 3000 Meter hohen Titlis sind von Norden und Westen aus die ersten Erhebungen der Alpen. Hier bleiben die Wolken also zuerst hängen und schneien sich ab. Doch auch die Trendsetter spüren den Ausfall von Schnee. Denn während die Pisten mit Kunstschnee präpariert werden, müssen Tourenskifahrer und Freerider auf dem Untergrund fahren, den ihnen die Natur liefert.
Auf der Nordseite des Titlis schlängeln sich lange Varianten-Abfahrten ins Tal. In Engelberg sprechen sie von den grossen fünf der Varianten-Abfahrten, den sogenannten «Big 5». Aber vielleicht werden es irgendwann nur noch die «Big 3» sein, denn die Galtiberg-Abfahrt geht bis ins Tal und war im vergangenen Winter nur an wenigen Tagen zu fahren, im letzten Abschnitt lagen Wurzeln, Steine und Wiese die meiste Zeit frei. Und auch die Laub-Abfahrt endete oft auf etwa 1400 Metern, wo an vielen Tagen wie heute der Schnee beinahe unbefahrbar wurde oder der Hang gar grün dalag.
Der Gleitschirm ist zusammengelegt kleiner als ein Fussball
Der Bergführer Daniel Perret von den «Engelberg Mountain Guides» zieht die Lösung für dieses Problem aus dem Rucksack: einen weissen Packen, etwa so gross wie ein luftleerer, platt gequetschter Fussball. Ein Gleitschirm, einlagig, ein Kilogramm leicht. Daniel Perret breitet ihn im Schnee aus. Wenn man das Material berührt, fühlt es sich an wie eine Mischung aus Regenjackenstoff und Backpapier. Um das Gesäss legt Perret das Gurtzeug; zwei Beinschlaufen, die an einem Sitz befestigt sind. Dieser ist mittels Leinen mit dem Schirm verbunden.
Mit diesem Paragleiter ist der 36-Jährige in diesem Jahr oft ins Tal gesegelt, wenn die Schneeverhältnisse eine Abfahrt bis zur Talstation nicht zuliessen, dadurch konnte er die Abfahrt Galtiberg öfter machen als andere Bergführer. «Ich fliege, wo kein Schnee mehr liegt», sagt er. «Man sollte eine Tour aber so planen, dass man auch ohne Schirm ins Tal kommt.» Die dauern dann länger, zwei Stunden oder mehr. Ein Abstieg auf Skischuhen mit den Ski auf dem Rücken, etwa am Galtiberg, ist langwierig und anstrengend.
Auf der Laub-Abfahrt ist es weniger beschwerlich. Aber heute zeichnet sich ab, dass der Plan B notwendig sein wird. Eine dicke Nebelwand ist knapp über der Gerschnialp hereingezogen, es ist plötzlich kaum noch möglich, zehn Meter weit zu sehen. «Unmöglich, bei diesem Wetter zu fliegen», sagt Daniel Perret. Er verstaut den Schirm im Rucksack und rutscht mit Stemmbogen langsam talwärts – saubere Kurven sind kaum möglich zwischen den Sträuchern und den dicken Schneeklumpen einer vor Tagen abgegangenen Lawine. An der Gerschnialp wartet ein Taxifahrer mit seinem Kleinbus auf Skifahrer, die er ins Dorf fährt.
Für heute hat es nicht geklappt mit dem Segeln ins Tal. Aber die Kombination «Ski and Fly» hat viele Vorteile. Man spart sich mühsame Ausfahrten aus Tälern. Und lange Fusswege, wenn kaum mehr Schnee liegt. Und vor gefährlichen Situationen lässt sich davonfliegen. Denn nicht immer ist die Lawinensituation so harmlos wie heute am Fuss der Laub-Abfahrt. Ist es während der Abfahrt an steileren Stellen bereits warm, drohen Nassschneelawinen.
Zurück mit der Bergbahn in Richtung Titlis, in der Gondel sitzt ein Chemielehrer aus Engelberg, um die 60, mit seiner Frau. «Vor zwanzig Jahren war es normal, die Abfahrten bis ins Tal zu fahren», sagt er. «Weil zukünftig weniger Schnee fallen wird, werden in zehn Jahren noch viel mehr Menschen einen Gleitschirm bei sich haben», sagt Daniel Perret. Auch er nutzt einen Gleitschirm, um nach der Abfahrt übers Grün ins Tal zu schweben. «Warum hast du ihn nicht bei dir?», fragt Daniel Perret den Chemielehrer. «Meine Frau müsste zu Fuss hinuntergehen, sie fliegt nicht.»
Beim Mittagessen im Restaurant Trübsee ist das Fliegen Gesprächsthema. Daniel Perret trifft dort auf seinen Kollegen Thomas Odermatt, auch er ein Bergführer. Vor dreissig Jahren hatte der 60-Jährige seinen Flugschein gemacht und hat vergangenen Winter erstmals wieder angefangen mit dem Gleitschirmfliegen. «Nicht um des Fliegens willen», sagt er. «Aber um rauszufliegen, wenn unten weniger Schnee liegt.» Nach dem Essen kommt Othmar Leuppi, Mitinhaber der Flugschule Engelberg, mit einem Kaffee an den Bergführertisch. Man kennt sich, bei ihm haben Perret und Odermatt das Gleitschirmfliegen gelernt. «Mit Anfang der Pandemie gab es einen Boom in der Flugschule», sagt der Fluglehrer, «seitdem sind die Anmeldungen konstant hoch.»
Das Brevet als Eintrittskarte zum «Ski and Fly»-Abenteuer
In der Praxis ist das Rausfliegen aus einer nur teilweise befahrbaren Abfahrt nicht einfach. Man braucht das Brevet zum Hängegleiterfliegen, um ausserhalb des Flugunterrichts mit dem Gleitschirm fliegen zu dürfen. Es beinhaltet Unterricht mit abschliessender theoretischer und praktischer Prüfung und unter anderem den Nachweis über 50 Flüge in fünf unterschiedlichen Gebieten. Je nachdem, wie viel Zeit man pro Woche einsetzen kann, bedeutet dies einen Aufwand von mehreren Monaten bis zu Jahren. «Ski and Fly» wird also auf die Schnelle nichts für die Masse der Freerider.
Aber der Bergführer Daniel Perret arbeitet daran. Bei den Engelberger Freeride-Tagen bietet er einen Schnupperkurs an: «Einstieg in deine Zukunft vom Freeriden/Skitouren». Denn der «mühsame Fussabstieg» so die Ankündigung des Kurses, werde in Zukunft durch die globale Erwärmung häufiger.
Tandemflüge ersparen kräfteraubende Abstiege
«Für mich wäre es schön, wenn ich mir diese mühsamen Abstiege ersparen könnte», sagt Daniel Perret. Bergführer sein ist körperlich anstrengend. Die Frühlings-Skisaison geht direkt in die Sommersaison über, man muss mit seinen Kräften gut haushalten. Deshalb arbeitet Perret auch für Gäste, die keinen Flugschein haben, an einer Lösung: dem Brevet als Tandempilot. Schirme, mit denen ein Pilot einen Passagier mitnehmen kann, sind mittlerweile so klein und leicht, dass sie im Tourenrucksack Platz finden.
Der Tag in Engelberg geht wolkenverhangen zu Ende, am Abend macht sich Daniel Perret auf ins Berner Oberland, um am nächsten Tag eine Hochtour zu führen. Der nächste Morgen in Engelberg ist sonnig. Von der Gondel aus sieht man einen prallen, luftgefüllten Gleitschirm über dem Titlisgletscher – es ist ein sogenannter Speedflyer, ein kleinerer Schirm, mit dem man abwechselnd fliegen und Ski fahren kann. Doch der Pilot setzt die Ski nicht auf, sondern schwebt über den Steilhang, dann über sanft coupiertes Gelände. «Warum fährt der nicht? Dort oben liegt Pulverschnee», sagt Thomas Odermatt. Für manch einen ist Fliegen vielleicht sogar noch schöner als Skifahren.
Vom 15. bis 17. März 2024 finden in Engelberg die Freeride-Days mit Schnupper-Kursen in «Ski and Fly» statt.
Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von Engelberg-Titlis Tourismus.