Radoslaw Sikorski warnt schon lange vor dem russischen Imperialismus. Um Europa besser zu schützen, will er eine schnelle europäische Eingreiftruppe. Zudem sieht er die Stationierung von Bundeswehrsoldaten an Polens Ostgrenze als Möglichkeit, Deutschland von dessen historischer Schuld zu entlasten.
Radoslaw Sikorski ist ein Routinier. Schon zum zweiten Mal führt er das polnische Aussenministerium für den Liberalen Donald Tusk. Doch die derzeitige Amtszeit ist nicht mit der vorhergehenden vergleichbar. In der Ukraine, Polens südöstlichem Nachbarland, herrscht nach der russischen Invasion vor zwei Jahren Krieg. Der überzeugte Europäer Sikorski gehörte schon immer zu den vehementen Verteidigern der ukrainischen Sache; zumal er seit Jahrzehnten vor den imperialen Gelüsten Russlands warnt. Dass viele Europäer den Ernst der Lage nicht zu erkennen scheinen, animiert den Chefdiplomaten mit einer ruhigen Stimme bisweilen zu markigen Worten: So hatte er das Nord-Stream-Projekt mit dem Hitler-Stalin-Pakt gegen Polen und Teile der Ukraine verglichen.
Herr Minister, Polen ist pro Kopf hochgerechnet der grösste Waffenfreund der Ukraine. Doch insgesamt nimmt die Unterstützung des Westens ab, und die Gegenoffensive Kiews ist gescheitert. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Zunächst müssen wir Folgendes festhalten: Die Ukraine hat ganz allein 50 Prozent des besetzten Gebietes zurückerobert, und sie hat die russische Armee im Schwarzen Meer besiegt. Das Land kann sein Getreide wieder exportieren. Aber ja, im Moment haben wir ein Patt an der Front – und wir kennen den Grund dafür. Der Westen – ich nehme Polen bewusst da aus – hat der Ukraine nicht die Waffen geliefert, die das Land benötigt. Die Lehre daraus kann nur sein: Wir müssen schneller handeln. Die Einzigen, die das Recht haben, kriegsmüde zu sein, sind die Ukrainer. Sie sterben, ihre Städte werden bombardiert, ihre Kinder werden entführt. Wenn wir weitere Fortschritte wollen, dann müssen wir mehr tun.
Sie haben Ihrer Bevölkerung geraten, sich für den Ernstfall vorzubereiten und etwa Lebensmittelvorräte anzulegen. Wie gross ist Ihre Angst als Pole vor Putin?
Nun, Putin sagte, er würde nicht in Georgien einmarschieren, er tat es aber dennoch. Er sagte, er würde die Krim nicht besetzen – er tat es. Und er hatte auch gesagt, er würde nicht in die Ukraine einmarschieren. Wenn er nun sagt, er habe keine Pläne, Lettland oder Polen anzugreifen, dann sollten wir uns bestimmt dafür bereit machen.
Vor kurzem machte Putin die Polen gar für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich. Ist das die rhetorische Vorbereitung auf mehr?
Genau so ist es, das ist sein Prinzip. Er sagt: Ich greife Polen nicht an, solange Polen nicht uns angreift – um dann zu sagen: Polen hat uns ja schon angegriffen. Das ist doch absurd. Was stimmt, ist, dass Hitler wollte, dass die Polen damals mit ihm auf Moskau marschierten. Polen hat das abgelehnt. Und als Dank sagt Putin jetzt, wir hätten den Zweiten Weltkrieg verursacht.
Sie lesen also in solchen Verzerrungen der Geschichte, dass Putin den Plan haben könnte, auch in Polen einzumarschieren? Sind das nicht schlicht die Äusserungen eines Verrückten?
Es gibt eine Logik hinter Putins Verrücktheit: Er will das russische Imperium wiederherstellen. Wir Polen haben das russische Imperium 500 Jahre lang bekämpft, wir würden das lieber nicht noch einmal tun. Wir waren eine russische Kolonie, genau wie die Ukraine. Wir haben uns gewehrt. Das ist der Grund, warum wir seit 15 Jahren mehr als zwei Prozent unseres Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung stecken. Jetzt sind wir sogar bei vier Prozent. Und wenn es noch mehr sein muss, dann gehen wir noch höher.
Ist Polen derzeit in der Lage, sich selbst zu verteidigen, nachdem es so viele Waffen an die Ukraine abgegeben hat?
Wir müssen unsere Kapazitäten für die Waffenproduktion ausweiten. Wir müssen vom Friedensmodus nicht auf den Kriegs-, aber auf den Krisenmodus umschalten. Dafür brauchen wir auch mehr europäische Kooperation – denn selbst die Bestandteile für Artilleriegranaten werden ja in mehr als einem Land hergestellt. Polen unterstützt den Vorschlag, dass wir mehr Waffen und Munition aus europäischen Fabriken kaufen – und wir hoffen, dass sich Deutschland dem anschliesst.
Tut Deutschland genug?
In den vergangenen Jahren hat Deutschland unsere Sicht auf Russland nicht geteilt. Wir haben Deutschland davor gewarnt, dass die Nord-Stream-Pipeline ein geopolitisches Projekt ist und Putin ein Killer. Und wir haben ihnen auch gesagt, dass er ernsthafte Pläne hat, was die Ukraine angeht. Olaf Scholz hat eine wichtige Rede gehalten in den Tagen nach der russischen Invasion. Ich hoffe, das Geld, das er bereitstellt, wird für die Modernisierung der Bundeswehr verwendet.
Könnten Sie sich vorstellen, dass Deutschland auch in anderer Art und Weise Unterstützung leistet – etwa indem deutsche Truppen die Abwehr Polens verstärken?
Deutsche Offiziere sind bereits in mehreren Nato-Einrichtungen bei uns tätig, in meiner Heimatstadt Bydgoszcz (dt. Bromberg) und in Stettin. Als russische Raketen nahe der Grenze einschlugen, hatten wir zeitweise auch deutsche Patriot-Flugabwehrstaffeln zur Sicherung der Ostgrenze stationiert.
Das hat aber bereits eine grosse Diskussion in der polnischen Regierung ausgelöst.
Polen hatte zu dem Zeitpunkt eine nationalistische Regierung. Wir haben mit der Dämonisierung des demokratischen Deutschland aufgehört. Für die Nationalisten ist das kontrovers – aber nicht für uns. Deutschland ist unser Alliierter, wir begrüssen alliierte Kooperation zur Sicherung des Nato-Gebiets, von daher: Deutsche Soldaten wären bei uns willkommen.
Könnte man deutsche Unterstützung für die Wehrfähigkeit Polens auch in Zusammenhang mit den Reparationen für den Zweiten Weltkrieg sehen?
Reparationen haben ja eine juristische, aber auch eine ethische und politische Dimension. Was letztere angeht, habe ich die deutsche Regierung kürzlich in Berlin ermuntert, kreativ darüber nachzudenken, wie sich materiell zeigen lässt, dass es Deutschland leidtut, wie seine Truppen sich in Polen im Zweiten Weltkrieg verhalten haben. Ein Beitrag an eine gemeinsame Verteidigung unserer beiden Länder könnte Teil einer solchen kreativen Lösung sein. Schliesslich hat Russland in der Oblast Königsberg Raketen mit nuklearen Sprengköpfen stationiert, die unsere beiden Länder in gleicher Weise bedrohen.
Apropos Atomwaffen: Glauben Sie, dass der nukleare Schutzschirm der Amerikaner über Europa noch Wirkung zeigt, sollte Donald Trump zum Präsidenten gewählt werden?
Ich weiss nicht, wie sinnvoll es ist, über so etwas zu spekulieren. Polen will beste Beziehungen zu jeder amerikanischen Regierung haben.
Braucht Europa eine eigene nukleare Abschreckung?
Der französische Präsident Macron hat sich in diese Richtung geäussert – ich denke, es kann nicht schaden, herauszufinden, was er damit genau meint.
Wären Sie bereit, europäische Atomwaffen auf polnischem Gebiet zu lagern?
Jetzt einmal langsam! Ich bin ein grosser Befürworter einer gemeinsamen europäischen Verteidigung, aber so weit sind wir noch lange nicht. Wir haben ein in der Entstehung begriffenes europäisches Verteidigungsbudget. Aber es ist notabene Deutschland, das sich im Moment weigert, das auszuweiten. Wir brauchen vor allem eine schnelle europäische Eingreiftruppe, die einsatzbereit ist, wenn die Amerikaner woanders gebunden sind.
Als Donald Trump sagte, er wolle keine Länder mehr verteidigen, die nicht ihren finanziellen Nato-Verpflichtungen nachkämen, reagierten die Polen sehr empört.
Ich weiss gar nicht, welche Länder er meint, in die er die russische Armee einladen würde. Selbst Deutschland liegt jetzt über dem Nato-Ziel, das vorgibt, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aufzuwenden.
Stellen solche Äusserungen die europäische Abschreckung infrage?
Wir sollten diese Äusserungen von Donald Trump eher als Inspiration ansehen, um endlich ernsthaft über europäische Verteidigung zu reden und dafür auch Geld in die Hand zu nehmen. Trumps Worte sind die letzte Warnung. Was sonst muss denn noch geschehen? Der Einmarsch russischer Truppen? Ich bin aber weniger besorgt über das, was Donald Trump sagt, sondern mehr über das, was er tut. Er hat verhindert, dass das Repräsentantenhaus die Hilfe für die Ukraine verabschiedete. Da reden wir von mehr als 60 Milliarden Dollar, die die Ukraine dringend für mehr Munition braucht. Und ohne die sie keine neuen Gebiete mehr zurückerobern kann.
Was ist Ihr Szenario für die Ukraine? Wie könnte dieser Krieg enden?
Mit einem Anruf von Präsident Putin an seinen Generalstabschef, die Invasion zu beenden.
Das scheint im Moment eher unwahrscheinlich.
Solche kolonialen Kriege enden, wenn der Angreifer einsieht, dass die Entscheidung zum Einmarsch ein Fehler war und die Kosten an Mensch und Material höher sind als der versprochene Gewinn. Putin ist noch nicht so weit. Die meisten Kolonialkriege in der Vergangenheit wurden von einer anderen Mannschaft beendet als sie begonnen wurden.
Sie sind immer noch optimistisch, dass die Ukrainer siegen werden?
Ich hoffe es – auch unseretwegen. Denn wenn wir Putin damit davonkommen lassen, dass er für seinen Einmarsch belohnt wird und den Präzedenzfall schafft, dass man internationale Grenzen mit Gewalt ändert, dann müssten wir die Lehren aus zwei Weltkriegen revidieren.
Müssen sich die Ukrainer nicht mit Putin an den Verhandlungstisch setzen?
Würden Sie sich an einen Tisch mit ihm setzen? Und würden Sie ihm glauben, wenn er sich mit etwas einverstanden zeigte? Das sollte die Entscheidung der Ukrainer sein, denn sie müssen mit den Konsequenzen leben.
Engagiert für das demokratische Polen
Radoslaw Sikorski wurde 1963 in Bydgoszcz (dt. Bromberg) geboren. Schon als Gymnasiast engagierte er sich gegen den Kommunismus. Er verliess Polen 1981. In Grossbritannien bekam er politisches Asyl und studierte in Oxford Politik, Wirtschaft und Philosophie. Von 1986 bis 1989 arbeitete er als Kriegsreporter in Afghanistan, nach der Wende kehrte er nach Polen zurück. Seine politische Karriere begann 1992 als stellvertretender Verteidigungsminister. Zwischen 2005 und 2007 verantwortete er die polnische Verteidigungspolitik der Kaczynski-Regierung. Danach wurde er für Donald Tusks liberale Bürgerplattform ins polnische Parlament gewählt, bald darauf wurde er dessen Aussenminister. In den Reihen von Tusks Partei gehört er bis heute zu den Konservativen. Zwischen 2019 und 2023 sass er im europäischen Parlament. Sikorski ist seit 1992 mit der amerikanischen Historikerin Anne Applebaum verheiratet.