Die Wahl von Donald Trump stellt für die Börsen einen Wendepunkt dar. Mit dem Rückzug auf sich selbst dürfte die Diversifikation nach Ländern wieder wichtiger werden.
Politische Börsen haben kurze Beine, heisst es. Doch ist es so leicht, «politische» Börsen von anderen, sagen wir «wirtschaftlichen» Börsen, abzugrenzen?
Was war beispielsweise, um in die Geschichte zurückzugreifen, der Ölpreis-Schock nach dem Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973? War der Lieferboykott, der von den Opec-Ländern gegen jene Staaten ausgesprochen wurde, die nach Auffassung ihrer arabischen Mitglieder eine zu Israel-freundliche Politik betrieben, etwa kein politischer Entscheid?
Waren die Ölpreis-Erhöhungen in den vier folgenden Jahren vom Markt oder von der Politik induziert?
Sie waren politisch, wie Daniel Yergin in seinem über 800 Seiten umfassenden Standardwerk «The Prize» zur Geschichte des Öls von den Anfängen bis 2008 beschreibt.
Sie hatten Folgen für die Güter- und Geldwirtschaft, Beschäftigung, Inflation, ökonomische Paradigmen bis hin zur grossen Bankenkrise, die 1982 mit dem Zahlungsausfall Mexikos begann und schliesslich alle Länder erfasste, die damals unter dem Kürzel LDC für «Less Developed Countries» zusammengefasst wurden – mit anderen Worten: alle ausser die industrialisierten Länder des damaligen Westens.
Soziale Systeme lassen sich nicht klar trennen
Nach dem Soziologen Niklas Luhmann existiert keine klare Trennung zwischen den einzelnen sozialen Systemen wie Politik, Justiz, Wirtschaft, Religion, Sprache, Börse und anderen. Alle soziale Systeme sind geschlossen und offen zugleich: Offen in dem Sinne, dass einige miteinander kommunizieren, sich gegenseitig beeinflussen, allerdings nicht kontinuierlich und auch nicht immer im gleichen Ausmass.
Geschlossen werden soziale Systeme dadurch, dass ihre Entwicklung von einem Block von angenommenen Ideen, Wertvorstellungen und wissenschaftlichen Theorien vereinnahmt wird und alles, was nicht in diesen Block passt, vernachlässigt wird. Ein paradigmatisches Verhältnis beherrscht den Mainstream und wird nicht weiter hinterfragt. Man nennt diese Phasen Lock-in. Die darin entstehenden Rückkoppelungsschlaufen führen zu Übertreibungen, die das System wieder für vernachlässigte Parameter öffnen und neue Paradigmen suchen lassen. Solche Phasen werden als Bifurkationen bezeichnet.
Neue Paradigmen werden entstehen
Ich habe den Eindruck, dass «die Gesellschaft der Gesellschaft», wie Luhmann die Summe der sozialen Systeme nannte und daher sein Opus Magnum unter diesen Titel setzte, an einem Bifurkationspunkt angekommen ist, der sich auf politischer Ebene manifestiert und auf die potenzielle Entstehung von neuen Paradigmen an der Börse einwirkt.
Aus meiner Sicht ist das Links-Rechts-Schema, das in der französischen Nationalversammlung nach der Revolution von 1789 aufgestellt wurde, in Auflösung begriffen. Es scheint ersetzt zu werden durch «Inklusivisten» auf der einen Seite, die weiterhin offene Gesellschaften im Popper’schen Sinne befürworten, und «Exklusivisten», die die Segnungen ihrer Parochie exklusiv auf jene beschränken wollen, die ihrem Spiegelbild entsprechen.
Damit löst sich jenes Paradigma auf, das seit dem Zweiten Weltkrieg in ganz Europa, den USA (u.a. z.B. durch die Bürgerrechtsgesetze der Regierungen Kennedy und Johnson eingeleitet) bis hin zu Südafrika (Abschaffung der Apartheid) seine virale Ausbreitung fand.
«Die Gesellschaft der Gesellschaft» der Nachkriegszeit liess «die Wirtschaft der Gesellschaft» (ein anderer Buchtitel von Luhmann) mehr Menschen an ihrem Gedeihen teilnehmen denn je.
Sie führte zu einer globalen wirtschaftlichen und politischen Verflechtung, die globalisierte Konzerne entstehen liess, aber auch grenzüberschreitende, aus der Zivilgesellschaft erwachsene NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch, WWF, Médecins sans Frontières und viele andere mehr) und auf die Legislativen Einfluss nehmende zwischenstaatliche Organisationen (OECD, G20).
Die Sektoren waren entscheidend
Die sozioökonomische Verflechtung entwickelte sich vertikal und horizontal. Die Folge war die Globalisierung der Wirtschaft und der freie Kapitalverkehr. An den Börsen erzielte die Diversifikation über Sektoren Jahr für Jahr generell bessere Resultate als über Länder.
Soweit mir historische Daten vorliegen – in den USA reicht meine Datensammlung bis 1946 zurück –, sind Sektoren wiederholt massiv vom S&P 500 abgewichen. Mit der Zunahme der Globalisierung und der weitgehenden Homogenisierung der Geldpolitik in den grossen Industrieländern hat sich dieses Muster global ausgebreitet, wodurch sich die Perfomance der Sektoren zwischen den Regionen stark angenähert hat – gleichgültig ob linke (Mitterrand, Blair, Schröder) oder rechte (Reagan, Thatcher) Regierungen an der Macht waren. Gleichzeitig entstanden durchaus beachtliche Divergenzen zwischen Länderindizes, je nachdem, welche Sektoren in welchen Indizes vertreten waren.
Das wird die Börsen beeinflussen
Der erste moderne «Exklusivist» von weltwirtschaftlicher Bedeutung seit vielen Jahrzehnten, der über freie Wahlen an die Macht kam, ist Donald Trump. Andere befinden sich in der Warteschlaufe.
Das strategische Mittel dieser Gattung ist der Ausschluss ganzer Populationen durch pauschale Diabolisierung.
Auf die Börsen hat die Wahl Trumps, wenn man genau hinschaut, bisher keinen grossen Einfluss gehabt. Sektoren, Industrien und zumeist auch Aktien, die vor seinem Wahlsieg relativ stark waren, haben ihre Trends auch danach fortgesetzt.
Hektisch erlassene Dekrete, die nicht die beiden Kammern des Kongresses passieren mussten, werfen allerdings bereits grosse Schatten.
Die Pièces de résistance im Seilziehen zwischen «Exklusivisten», unter denen es in der republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus und im Senat die meisten gibt, und «Inklusivisten», von denen es sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten einige gibt, werden Budget- und Handelsverträge darstellen. Und gegebenenfalls auch Gebietsansprüche.
Das ist zu tun
Ich gehe davon aus, dass ein Obsiegen der «Exklusivisten» einen entscheidenden Moment für die Börse entstehen lässt, der «politische Beine» mit Marathontauglichkeit zur Folge haben wird.
Sie könnten – und genau darauf muss die Fokussierung unserer Beobachtungen liegen – bisherige Muster kippen.
Wenn die zum Dorf geschrumpfte Welt entflochten wird und Regionen wie mittelalterliche Städte ummauert werden, werden an der Börse vermutlich andere Muster Erfolg versprechen als die bisherigen.
Der Einstieg zur Erkenntnis, was sich verändert, liegt wie meist in der Veränderungsrate der relativen Preise. Statt Dogmen zu nähren, was an der Börse zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen funktioniert und was nicht, geht es um das, was die «Adaptive Market Hypothesis» von Andrew Lo oder die Evolutionary Finance von Thorsten Hens nahelegen: Die erfolgreichen Strategien, die von den verschiedenen Populationen angestossen werden, in ihren Anfängen zu entdecken.
Biologische oder künstliche Intelligenz: Beide passen sich pfadabhängig an erfolgreiche Strategien an. Das sollten wir auch tun, womit wir bei dem angelangt sind, was der Nobelpreisträger Herbert Simon als prozedurale Rationalität bezeichnete.
Alfons Cortés