Olivia Rodrigo ist der jüngste Stern am Pop-Firmament. Wenn die Sängerin im Juni nach Zürich kommt, halten wir den Atem an
Es gibt eine schöne Geschichte, welche die Musikjournalistin Caryn Ganz in einem Podcast der «New York Times» zum Besten gab. Sie steht sinnbildlich dafür, wie Olivia Rodrigo, der neue amerikanische Funkelstern am Pop-Firmament, tickt: Immer dann, wenn die Sängerin während der Aufnahmen zu ihrem im Herbst erschienenen Album «Guts» verzweifelte, weil sie das Vertrauen in einen ihrer Songs verloren hatte, soll ihr Produzent eine Kamera auf sie gerichtet haben. Sofort schlüpfte sie in eine Rolle und trug das Stück mit tiefster Überzeugung vor. Die Aufmerksamkeit des Objektivs half ihr, sich in jene seelische Befindlichkeit zu versetzen, die ihren Liedern so etwas wie «Authentizität» verleiht.
Olivia Rodrigo war ein Disney-Kinderstar, bevor sie ihren ersten Song schrieb. Für sie ist Authentizität eine erlernbare Disziplin, egal, ob auf dem Filmset oder am Klavier. Man glaubte ihr jedes Wort, als sie in «Drivers License», jenem Hit, der sie im Januar 2021 über Nacht zur heissesten Anwärterin für die Nachfolge von Taylor Swift machte, mit präziser Sprache und einem Four-Letter-Word («I still fuckin’ love you») von den unpräzisen Facetten der Liebe sang. Der Song ging durch alle Teenie-Zimmerdecken. Und als im selben Jahr das Debüt-Album «Sour» folgte, wurde aus der singenden Schauspielerin eine schauspielernde Singer-Songwriterin mit einem Arm voller Grammys.
Für Teenager können drei Jahre eine gefühlte Zeitspanne von Jahrhunderten sein. Jedenfalls war Olivia Rodrigo nicht mehr dieselbe, als sie an ihrem zweiten Album, «Guts», zu arbeiten begann. Einerseits war sie erwachsen geworden, andererseits war der Erfolgsdruck gigantisch. «My gosh, I was so angsty», gestand sie dem «Billboard-Magazine». Möglicherweise waren es diese «Gosh»-Momente, in denen ihr Produzent das Handy zückte und zu filmen begann.
Melodram im Netflix-Style
Mit der Single «Vampire» gelang der 20-Jährigen die erzählerische und kommerzielle Fortschreibung von «Drivers License». Mehr noch: «Vampire» war der Song des Jahres 2023. Die ersten Takte klingen routiniert. Klavierballaden-Handarbeit für traurige Mädchen. Die aufsteigende Akkordfolge mit dem Dur-Moll-Wechsel an der Spitze kennt man aus Radioheads Neunziger-Hymne «Creep» («I wish I was special / You’re so fuckin’ special»). Doch dann, wenn man das Lied schon überspringen möchte, gleitet Rodrigo mit der Zeile «I made some real big mistakes» in diesen hinreissenden Refrain, trägt die Melodie zur Sonne, verbrennt sich die Flügel und stürzt im freien Fall ins Leere. Ein Stunt wie aus einer Eurovision-Song-Contest-Ballade!
«You are a blood sucker, fame fucker», schleudert sie einem Ex entgegen, bevor sie die Radiohead-Tonleiter erneut erklimmt. Das Klavier spielt Stakkato, die Kickdrum pocht, und mit einem Disco-Beat marschiert der Song in ein glorioses Gitarrenrock-Finale. Grosses Kino! Sieht man sich das Video an, begreift man, wie geschickt Rodrigo auch die schauspielerische Metaebene bedient. Das Melodram, in dem sie die Hauptrolle spielt, liess sie in albtraumhafter Netflix-Ästhetik von der Fotografin Petra Collins inszenieren, bekannt für ihre einfühlsamen Teenager-Porträts. Auch sie arbeitet, wie Rodrigo, mit nachempfundener «Authentizität».
Die Suche nach dem Authentischen ist in der Pop-Musik so alt wie das Genre. Sind die Songs von Edith Piaf oder Johnny Cash authentisch, weil wir denken, dass ihre Biografien ihre Musik durchtränken? Hat Nick Cave ein paar Leichen im Keller, wo er doch ein Album mit «Murder Ballads» schrieb? Solange wir ihnen glauben, spielt die Frage keine Rolle. Taylor Swift, 33, noch immer der hellste Stern am Pop-Himmel, hatte vor ein paar Jahren einen Hit mit dem Titel «Cardigan». Damit schaffte sie das Kunststück, die Strickjacke zum Authentizitäts-Merkmal zu machen: Ich bin unkompliziert, aber sensibel und brauche etwas Wärme. Da kommt jemand wie Olivia Rodrigo gerade richtig. Sie steckt die Grenzen weiter ab – doch nicht zu weit! Nicht nur musikalisch wagt sie mehr. Doch dass sie schon auf ihrem ersten Album, «fuck», und auf dem zweiten, «bitch», singen durfte, hat sie auch Swift zu verdanken, die für den Befreiungsschlag acht Jahre und vier Alben brauchte.
Billie Eilish oder Olivia Rodrigo?
Die Anfänge von Swift und Rodrigo könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch es gibt biografische Gemeinsamkeiten. Beide sind in amerikanischen Kleinstädten aufgewachsen, wie man sie aus Spielberg-Filmen kennt, beide stammen aus intakten Familien des oberen Mittelstands. Die Swifts zogen mit ihrer Tochter nach Nashville, die Rodrigos nach Los Angeles, um näher bei der Musik- bzw. Filmindustrie zu sein. Heute ist Swift der grösste Pop-Star seit Elvis Presley. Andere Künstlerinnen ihrer Generation kamen ihr nahe: Miley Cyrus, Selena Gomez, SZA, Ariana Grande – doch einholen können sie sie längst nicht mehr.
Bei den Neuzugängen aus der Generation Z verdünnt sich das Angebot dramatisch. Billie Eilish und Olivia Rodrigo sind die Einzigen, die Swift gefährlich werden könnten. Doch Eilish ist musikalisch viel zu interessant, was im Superstar-Segment heute kein Vorteil mehr ist. Bei Rodrigo dagegen ist nichts «weird» oder «cringe», sie tröpfelt ihre Mini-Revolte in homöopathischen Dosen in ihre Songs. Dafür hat sie ein Gespür für die Retro-Faszination der Generation «angsty». Ihre Musik ist voller Zitate aus der MTV-Kiste, an denen auch Mama und Papa Freude haben: Man hört Liz Phair, Christina Aguilera oder The Breeders, vorgetragen mit kuscheliger Punk-Attitüde und nicht selten auch Humor. Musik, die auch gut zur Frühlingskollektion von H&M passen würde.
Natürlich hat Taylor Swift noch immer die grösste generationenübergreifende Fangemeinde. Doch die Sonne hat den höchsten Stand erreicht. Ihre spektakuläre Welttournee könnte man bereits als Krönung einer Karriere deuten, bevor die Streaming-Zahlen sinken. Olivia Rodrigo gehört die Zukunft. Schon der Umstand, dass ihre Band aus Frauen besteht, während sich bei Swift noch immer Kerle ins Zeug legen, ist ein Zeichen der Zeit. Wenn sie am 11. Juni im Hallenstadion Zürich auftritt, wird das noch keine seismografisch messbare Erschütterung auslösen, wie es Swift angeblich zu tun vermag. Aber das Konzert könnte die Antwort auf die Frage geben, ob Olivia Rodrigo in einer nahen Zukunft dazu in der Lage ist.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»