Beschliesse heute milliardenschwere Mehrausgaben und lass andere das Finanzierungsproblem lösen: Kraft dieser Grundhaltung könnte nach der Gewerkschaftsinitiative für höhere AHV-Renten bald auch die SP-Initiative für eine stärkere Verbilligung der Krankenkassenprämien eine Mehrheit finden.
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Diese Weisheit der Fussballer gilt auch für die Politik. Der Grosserfolg der Gewerkschaftsinitiative für höhere AHV-Renten vom Sonntag zwingt die Bundespolitik zur Suche nach der Finanzierung der geschätzten Mehrkosten von 4 bis 6 Milliarden Franken pro Jahr. Und schon wirft die nächste milliardenteure Volksinitiative ihre Schatten voraus.
Im Juni kommt die SP-Initiative mit ihrer Forderung nach einem Ausbau der Subventionierung der Krankenkassenprämien an die Urne. Gemäss dem Initiativtext dürfen die von Versicherten bezahlten Krankenkassenprämien höchstens 10 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmachen; bei höheren Prämien sollen Bund und Kantone die Differenz zahlen. Gemäss dem jüngsten Bericht zur Prämienverbilligung betrug 2020 die durchschnittliche Prämienbelastung in den untersuchten Haushaltstypen mit tiefen Einkommen 9,4 Prozent.
2020 erhielten 28 Prozent aller Versicherten Prämienverbilligungen für total 5,5 Milliarden Franken. Die Initiative würde laut mittlerer Schätzung des Bundes im Jahr 2020 für Bund und Kantone zusammen Mehrkosten von 4,5 Milliarden Franken verursacht haben; die jährlichen Mehrkosten könnten bis 2030 auf 7 bis fast 12 Milliarden Franken steigen.
Im Bann der Prämienrunden
Auch diese Initiative dürfte gute Chancen haben. Das Timing ist für die Initianten fast ideal. Die Linke scheint es in den letzten zwei Jahren geschafft zu haben, via Medien die allgemeine Gefühlslage einer «Kaufkraftkrise» zu verbreiten. Bei den Krankenkassen brachten die zwei letzten Jahre happige Prämienrunden – mit einem Anstieg der mittleren Prämien von total fast 14 Prozent. Ein Teil davon hat mit dem «Aufholen» nach zuvor künstlich tiefem Anstieg zu tun; so ist die durchschnittliche Prämienerhöhung über die letzten fünf Jahre mit 2,7 Prozent pro Jahr nicht spektakulär. Doch solche Feinheiten dürften im Getöse des Abstimmungskampfs untergehen. Ebenso wie die Tatsache, dass die Prämien vor allem wegen der ständigen Zunahme der Gesundheitsleistungen steigen.
Laut Wahltagsbefragung des Instituts Sotomo zu den Parlamentswahlen im Oktober 2023 standen die Krankenkassenprämien in der Liste der politischen Herausforderungen ganz oben.
Die Initiative zum Ausbau der Prämienverbilligungen sei «chancenreich», sagt der Politologe Lukas Golder vom Forschungsinstitut gfs.bern. Die Chancen hätten sich mit dem Volks-Ja zum AHV-Ausbau noch erhöht: «Nachdem die Rentner etwas bekommen haben, könnte nun aus Sicht der Mehrheit der untere Mittelstand an der Reihe sein.» Zurzeit dominiere die Stimmungslage «wir können uns das leisten». Wie die AHV-Initiative dürfte laut Golder auch die Initiative zu den Krankenkassenprämien stark mobilisieren. Bei steigender Stimmbeteiligung steigt laut Golder die Bedeutung des Portemonnaies der Urnengänger und die Wahrscheinlichkeit einer Abstimmungsniederlage der Behörden.
Denkbar ist aber auch, dass nach dem Entscheid zum teuren AHV-Ausbau das Volk Hemmungen hat, kurz darauf schon wieder eine milliardenteure Vorlage ohne gesicherte Finanzierung zu beschliessen. Trotzdem nehmen bürgerliche Initiativgegner im Parlament die Initiative sehr ernst.
Kaufe jetzt, zahle später
Die Gegner können auf einen Beschluss des Parlaments verweisen, der den Kantonen ausgebaute Vorgaben für Prämienverbilligungen macht und damit Zusatzsubventionen von knapp 360 Millionen Franken pro Jahr bringt. Im Vergleich zur Forderung der Volksinitiative ist das eine überschaubare Zahl – was man je nach Standpunkt positiv oder negativ werten mag. Die Gegner der Initiative werden auf deren hohe Kosten verweisen, doch wie die AHV-Initiative kommt auch die Prämienverbilligungsinitiative nicht mit einer gleichzeitigen Finanzierungsvorlage. So können die Bürger nach dem Motto «was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss» darauf hoffen, dass «andere» die Rechnung zahlen werden.
Das illustriert ein Grundproblem: Die Bürger stimmen oft über potenziell teure Vorlagen ab, ohne dass sie gleichzeitig auch über die Finanzierung entscheiden und damit die Konsequenzen direkt spüren. Weitere Lehrbuchbeispiele der jüngeren Zeit sind die Verankerung eines Netto-Null-Ziels zum CO2-Ausstoss für 2050 im Klimagesetz und die erfolgreiche Pflegeinitiative. Letztere dürfte ironischerweise zu höheren Krankenkassenprämien führen.
Das Problem lässt sich kaum befriedigend lösen. Es gehört zum System der direkten Demokratie. Der Politologe Lukas Golder sagt es so: «Das Volk darf auf der abstrakten Ebene der Verfassung den Fünfer und das Weggli fordern. Es liegt dann an Bundesrat und Parlament, akzeptable Lösungen zu finden.»