Studierende protestieren inzwischen an Dutzenden von Universitäten gegen den Krieg in Gaza und besetzen den Campus. Ihre Forderungen sind schrill und teilweise antisemitisch. Hunderte wurden verhaftet.
Seit mehr als einer Woche brodelt es an den amerikanischen Universitäten. Die propalästinensischen Demonstrationen erfassen inzwischen fast das ganze Land, die grossen Eliteuniversitäten ebenso wie kleinere Colleges. Das Markenzeichen des Protests sind die Zeltlager vor den Hauptgebäuden, mit welchen die Demonstranten den Unterricht und das studentische Leben an den Hochschulen empfindlich stören.
Das letzte Mal wurden Zeltlager bei der antikapitalistischen Protestbewegung «Occupy Wall Street» im Jahr 2011 auf den Universitätsgeländen aufgebaut. Wie diese vereint auch die Stop-Gaza-Bewegung vielerlei Gesinnungen und Gefühle: Es vermischen sich Emotionen zum Gaza-Krieg mit offenem Antisemitismus, die Forderung nach einem palästinensischen Staat mit Postkolonialismus-Theorien.
Wo hat alles angefangen?
An der Columbia University in New York ging es los: Am 17. April, während der Kongressanhörung der Columbia-Präsidentin Minouche Shafik, verkündeten Mitglieder der Gruppe «Columbia Students for Justice in Palestine» mit einer Nachricht, dass sie den Rasen vor dem Hauptgebäude besetzt hätten. Sie erklärten den Campus zur «befreiten Zone». Jüdische Studierende sagten, ihre Sicherheit sei gefährdet.
Shafik, die vor dem Kongress jeglichen Antisemitismus verurteilt hatte, rief die Polizei. Diese räumte das Zeltlager, und es kam zu mehr als hundert Verhaftungen. Doch die Massnahme war nicht nachhaltig; die Gaza-Demonstranten waren bald zurück und schlugen rund achtzig Zelte auf. Derzeit laufen Verhandlungen. Präsidentin Shafik hat ein Ultimatum für eine Einigung gesetzt, das nun ausläuft. Der Unterricht findet bis Ende Semester online statt.
Und wie breitete sich die Bewegung von dort aus?
Nachdem die Columbia University die polizeiliche Räumung veranlasst hatte, sprang der Funke auf zahlreiche Universitäten im ganzen Land über, wo sich Studenten mit den New Yorker Aktivisten solidarisierten. Die Polizei intervenierte an verschiedenen Schauplätzen – es kam landesweit bisher zu insgesamt 400 Verhaftungen. Es sind nicht grosse Massen, die sich erheben, aber an vielen Orten verteilt sind es doch grössere Gruppen.
Was fordern die Studierenden?
Sie fordern von den Hochschulen, dass sie akademische Beziehungen mit israelischen Institutionen kappen und sich von Investitionen zurückziehen, die in irgendeiner Weise mit Israel oder dem Krieg in Gaza zu tun haben. Den israelischen Krieg gegen die Hamas nennen die Gaza-Demonstranten einen Genozid. Die israelische Militäroperation erfolgte nach dem Massaker der Hamas an Israeli am 7. Oktober .
Wie gehen die Universitätsleitungen mit den Protesten um?
Sehr unterschiedlich. Die einen lassen die Zeltlager zu und verhandeln mit den Studierenden. Andere lassen den Campus sofort polizeilich räumen. Es scheint, als hätten viele Hochschulen von den Ereignissen an der Columbia University gelernt: Sie versuchen, Besetzungen so schnell wie möglich zu beenden. Die Proteste stürzen die Universitäten in ein grundsätzliches Dilemma: Sie sind verantwortlich für die Sicherheit der Studierenden, sind aber auch der Meinungsfreiheit verpflichtet. Zudem befürchten sie, dass Repression nur zu noch stärkeren Protesten führen könnte. Hinzu kommt: Teile der Professoren und des Mittelbaus solidarisieren sich mit den Demonstranten und nehmen an den Protesten aktiv teil.
Welche Universitäten sind betroffen?
Grössere Demonstrationen fanden an Hochschulen in den Grossstädten der Ost- und der Westküste statt, aber auch in Minnesota, Ohio, Indiana oder Tennessee. Die Proteste verliefen bisher grösstenteils gewaltlos. Nebst der Columbia University gab es grössere Polizeieinsätze an der Emory University in Atlanta, wo die Polizei Taser und Pfefferspray einsetzte. Oder an der University of Southern California in Los Angeles, wo die Universitätsleitung die Graduierungsfeier absagte, aus Angst vor Ausschreitungen.
In der liberalen Hauptstadt im konservativen Texas kam es zu besonders heftigen Zusammenstössen zwischen den Demonstranten und berittenen Polizisten. Fast 60 Personen wurden an der University of Texas in Austin festgenommen. Der republikanische Gouverneur Greg Abbott will auch künftig hart gegen die propalästinensischen Demonstranten vorgehen. Er schrieb, er werde sie so lange verhaften lassen, bis die Proteste aufhörten. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) von Texas warnte vor gewaltsamen Polizeieinsätzen und verlangte sichere Zonen für die Proteste.
Wie könnte es weitergehen?
Das Semester dauert nicht mehr lange. Im Mai finden die Abschlussprüfungen statt, und dann herrscht Sommerbetrieb an den Universitäten. Allerdings kann der Sommer – das zeigten die «Black Lives Matter»-Proteste 2020 – auch zur heissen Phase werden, insbesondere in einem Wahljahr. Im Juli und August finden die beiden Parteitage in Chicago und Milwaukee statt. Sie könnten zu einem Anziehungspunkt für die Bewegung werden. Es wird sich zeigen, ob die Polizeieinsätze die Proteste unterdrücken können. Wahrscheinlicher ist, dass sie abseits der Campus weitergehen.