Marko Risovic / Kamerades
Es passieren aussergewöhnliche Dinge auf dem Balkan. Die anhaltenden Proteste politisieren eine ganze Generation.
Die Architekturstudentin Stasa Cvetkovic ist seit drei Tagen mit ihren Kommilitonen unterwegs. Von Bujanovac an der Grenze zu Kosovo marschieren sie 120 Kilometer nach Nis, der drittgrössten Stadt Serbiens. Dort findet wieder eine der grossen Protestkundgebungen statt, die seit Monaten das Land erschüttern. Sie sagt: «Das ist der vorläufige Höhepunkt, aber wir warten noch auf den Epilog.» Wie der aussieht, weiss niemand.
Wogegen protestieren die Studenten? Die Frage ist falsch gestellt: Sie demonstrieren für etwas. Es sind ganz konkrete, keineswegs revolutionäre Forderungen: Die Studentinnen und Studenten wollen, dass die Regierung und die Behörden ihre Arbeit tun. Und zwar so, wie es Verfassung und Gesetz vorsehen.
Doch in Serbien sind diese Forderungen hochbrisant. Denn es ist klar, dass es in dem autoritären System, das ganz auf die Person von Präsident Aleksandar Vucic zugeschnitten ist, unparteiische Untersuchungen von Polizei und Gerichten nicht geben kann. Es fehlt die Gewaltenteilung im Staat.
Der Auslöser der Protestwelle war ein Unglück. In Novi Sad stürzte am 1. November ein Bahnhofdach ein und schlug fünfzehn Menschen tot. Experten machen dafür Schlamperei am Bau und käufliche Behörden verantwortlich. Das verweist auf das Versagen der Institutionen, die eben nicht unabhängig und professionell arbeiten, sondern nach der Pfeife der Regierungspartei und Aleksandar Vucics tanzen.
Die Studierenden begannen damit, Strassenkreuzungen zu blockieren. Sie hielten Transparente hoch: «Stop Serbien!» und schwiegen für 15 Minuten. Die Schweigeminuten sind zu einem festen Ritual geworden: Damit gedenken die Demonstranten der 15 Menschen, die unter dem einstürzenden Dach ihr Leben verloren.
«Eure Korruption tötet!», rufen die Demonstranten. Sie wollen, dass die komplette Baudokumentation des eingestürzten Daches offengelegt wird. Die Zuständigen und auch die politisch Verantwortlichen sollen bestraft werden. Ebenso jene Schlägertrupps, die – in wessen Auftrag auch immer – auf die Studenten losgingen. Und schliesslich fordern die Studenten, dass die Regierung mehr für Bildung ausgibt.
Der Protest breitete sich schnell aus. Nicht nur in den grossen Städten, auch auf dem Land mit seiner konservativen Bevölkerung finden die Versammlungen statt. Und es sind auch nicht bloss Studierende, die sich anschliessen: Viele Eltern sind mit dabei, Ladenbesitzer, die Mitglieder der Anwaltskammer, Bauernverbände, Lehrer mit ihren Schulklassen. Wenn die Studierenden frühmorgens in die Provinz marschieren, um den Protest zu verstärken, fahren am Abend die Belgrader Taxifahrer los und bringen sie gratis nach Hause.
Die Breite des Protestes macht die Regierung nervös. Sie versucht, ihn als von aussen gesteuert zu diskreditieren. Aber das Argument zieht nicht. Es ist keine «farbige Revolution», hinter der fremde Mächte, ausländische Organisationen oder Geheimdienste stehen, wie Vucic behauptet.
Von der Europäischen Union erwarten die Jungen nichts. Sie stützt, wenn es darauf ankommt, Vucic. Ihr grösster Wunsch ist Stabilität, nicht Demokratie. Deshalb fehlen auch die Europa-Fahnen. Nur die serbische Fahne ist überall. Es geht den Studierenden um ihr Land, nicht um Brüssel oder Moskau – oder Kosovo.
«Das sind unsere Kinder!», sagen die Älteren, die am Strassenrand stehen und applaudieren. Von den jungen Leuten hört man immer wieder: Der Druck der vergangenen Jahre ist plötzlich weg. Und auch die Furcht vor der Kritik ist verflogen. Damit konnten Nachteile im Studium oder bei der Stellensuche verbunden sein. Angst ist ansteckend, aber Mut auch.
Serbien hat eine lange Geschichte des Protestes gegen die Obrigkeit. Die Generation, die gegen Milosevics Diktatur in den neunziger Jahren auf die Strasse ging, ist jetzt über 50 Jahre alt.
Diese Veteranen des zivilen Ungehorsams jammerten in den letzten Jahren oft, die Jugend sei unpolitisch und apathisch oder, noch schlimmer: von der Propaganda nationalistisch vergiftet. Die Besten unter ihnen hätten nur einen gutbezahlten Job in Westeuropa im Kopf.
Die Bewegung widerlegt die Klage. Diese Jugend träumt nicht vom Ausland. Sie will in ihrem Land leben, aber es soll sich verändern. Sie wollen die Gesellschaft nicht auf den Kopf stellen, aber sie fordern ein, was allen Bürgern nach Recht und Gesetz zusteht: die Kontrolle der Macht.
Die Bewegung hat keine offiziellen Vertreter, es gibt kein Streikkomitee und keine sichtbaren und charismatischen Anführer. Sie funktioniert vielmehr wie ein Netzwerk von grossen und kleinen Gruppen, die über das ganze Land verteilt sind.
Die Organisation und Planung der Proteste geschieht in den Vollversammlungen der Studierenden. Dort machen sie Vorschläge, debattieren und stimmen ab. Zwischen den Versammlungen halten Verbindungsleute Kontakt. So ist das Netzwerk in der Lage, in kurzer Zeit Zehntausende auf die Strasse zu bringen.
Die Bewegung hält Distanz zu den etablierten Oppositionsparteien. Diese würden ihrer Popularität schaden. Denn die Anführer dieser Parteien gelten in der Bevölkerung als verbraucht und nur deshalb als nicht korrupt, weil sie weg von der Macht sind.
Dass es keine prominenten Protest-Vertreter gibt, hat taktische Gründe. Die Regierung wartet nur darauf, dass jemand den Kopf hochreckt und zum Gesicht der Bewegung wird. Damit wüsste sie dann umzugehen.
Sie würde in den regimetreuen Medien eine Schmutzkampagne laufen lassen, den Anführer oder die Anführerin mit wahren oder erfundenen Geschichten erpressen und Tag und Nacht vom Geheimdienst überwachen lassen.
Weil ein Ansatzpunkt fehlt, um Druck zu machen, lässt die Regierung die Steuerpolizei in den Büros von Organisationen aufmarschieren, denen sie Nähe zum Protest unterstellt. In manchen Staatsbetrieben wurden Angestellte entlassen, die öffentlich mit den Studenten sympathisierten. Doch diese Schikanen zeigen wenig Wirkung. Die Unterstützung aus der Bevölkerung hält an.
Auf ihren Märschen quer durch das Land werden die Studenten in den Dörfern bewirtet und übernachten in den Häusern von Fremden. Diese Begegnungen tragen viel dazu bei, dass sich das neue Gefühl von Solidarität nicht nur im studentischen Milieu verbreitet. Es ist auch unter Hunderttausenden Serben geweckt, die die Aktionen der Jungen mit Spannung und Sympathie verfolgen.
Woran misst sich der Erfolg dieser Bewegung?
Einiges wurde erreicht. Unter dem Druck der Strasse hat Vucic den Ministerpräsidenten Milos Vucevic und drei Minister zurücktreten lassen. Sie sollen die politische Verantwortung für das Unglück in Novi Sad tragen.
Die Staatsanwaltschaft hat über ein Dutzend Anklagen erhoben. Sie sollen Aufschluss darüber geben, welche Verstösse zu dem Unglück führten. Und schliesslich hat sich die Regierung auch bereit erklärt, das Bildungsbudget deutlich zu vergrössern.
Das genügt den Studierenden nicht. Vor allem die Veröffentlichung der gesamten Baudokumentation bleibt ein zentrales Anliegen.
Es gibt Gegner von Vucic, die auch die Studentenbewegung kritisieren. Sie werfen ihr vor, keine politische Perspektive zu haben. Der Protest-Veteran Dragomir Olujic, der schon 1968 auf Belgrads Strassen unterwegs war, glaubt, dass die Energie der Demonstranten bald einmal aufgebraucht sei. Und was dann? Für ihn zählt nur als Erfolg, wenn es zum Machtwechsel kommt, wenn Vucic fällt.
Die Belgrader Soziologin Dusanka Milosavljevic sieht das anders. Eine ganze Generation junger Menschen, sagt sie, werde durch die Teilnahme an den Protesten politisiert. Sie lernten, zu begreifen, wie «das System» funktioniert und wie man sich gemeinsam dagegen wehrt.
Und tatsächlich: Die Skeptiker übersehen etwas. Zwar hat diese Bewegung das System noch nicht verändert, die Bewegten selber aber schon: Sie haben gelernt, sich in Debatten ihre eigene Meinung zu bilden, ihre Argumente zu schärfen und dank Organisation konkrete Ziele zu erreichen. Der Protest ist eine Schule der Demokratie. Er macht aus seinen Teilnehmern Bürgerinnen und Bürger.
Mitarbeit: Jessica Eberhart, Jasmine Rueegg