Tausende israelische Reservisten haben jüngst Protestbriefe gegen den Krieg im Gazastreifen unterzeichnet. Gleichzeitig ignorieren immer mehr Soldaten die Einberufungsbefehle.
Als der israelische Generalmajor Michel Yanko vergangene Woche nach Gaza reiste, musste er sich bittere Beschwerden anhören. Die in Rafah stationierten Soldaten der Golani-Brigade klagten über zu wenig Essen. Wegen der Einschränkungen während des Pessachfestes erreichten anscheinend nicht genug Lebensmittelrationen die Truppe. Manche der Soldaten, so schrieb die Zeitung «Times of Israel», hatten ihren Eltern offenbar erzählt, sie hätten seit Tagen keine warme Mahlzeit mehr bekommen.
Yanko versprach sofortige Besserung. Doch das fehlende Essen dürfte bald das kleinste Problem für Israels Generäle sein. Seit dem Ende der Waffenruhe mit der Hamas und der Wiederaufnahme der Kämpfe im Gazastreifen macht sich auch grundsätzliche Unzufriedenheit in der Truppe breit. Vor allem unter den Reservisten rumort es – sie machen den Grossteil von Israels Armee aus und werden immer wieder aus dem zivilen Leben einberufen, um in Gaza zu dienen.
«Dieser Krieg dient nur dem Überleben der Regierung»
Dabei hatte Israels Verteidigungsminister Israel Katz kürzlich noch eine Eskalation der Militäroperationen in Gaza angekündigt. Man werde die Angriffe ausweiten und Teile der nach 18 Monaten Krieg in Trümmern liegenden palästinensischen Enklave sogar langfristig besetzen, sagte er. So soll die Hamas, die im Oktober 2023 Israel überfallen hatte, endlich in die Knie gezwungen und dazu gebracht werden, die verbliebenen 59 Geiseln freizulassen. Dafür will Katz demnächst auch wieder Reservesoldaten einberufen.
Doch nun muss sich der Minister mit einer offenen Revolte herumschlagen. Tausende Reservisten und Veteranen der Luftwaffe gingen Mitte April mit einem Protestbrief an die Öffentlichkeit. Darin fordern sie ein Ende der Kämpfe und Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln: «Dieser Krieg dient nur noch dem politischen Überleben der Regierung», sagt der ehemalige Offizier und Kampfpilot Guy Poran, einer der Initiatoren des Briefes. «Er gefährdet das Leben der Geiseln, der Soldaten und führt zum Tod von unschuldigen Zivilisten. Er muss beendet werden.»
Die Piloten sind nicht die Einzigen, die rebellieren. Inzwischen haben unzufriedene Reservisten aus anderen Truppengattungen ähnlich lautende Briefe veröffentlicht. Die Soldaten fühlen sich dabei von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. «Umfragen zeigen, dass zwischen 75 und 80 Prozent der Israeli diesen Krieg nicht mehr wollen», sagt Poran. «Sie wünschen sich einen Waffenstillstand und ein Geiselabkommen. Aber der Regierung ist das egal. Dieser Krieg ist jetzt Netanyahus Krieg, nicht mehr Israels Krieg.»
Immer mehr Reservisten rücken nicht mehr ein
In einer ersten Reaktion bezeichnete Ministerpräsident Benjamin Netanyahu die aufsässigen Militärs als Verräter. Es handle sich um eine kleine Gruppe von Extremisten, die die Gesellschaft spalte, sagte er. Schon einmal sah sich Netanyahu einer uniformierten Protestbewegung gegenüber, als im Sommer 2023 Tausende Reservisten gegen seine geplante Justizreform auf die Barrikaden gingen und mitunter sogar den Dienst verweigerten. Nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober eilten die Soldaten aber zurück zu den Waffen, der Protest ebbte ab.
Diesmal ist die Lage jedoch anders. Die lautstarken Briefeschreiber sind nicht die Einzigen, die den Krieg in Gaza nicht mehr mittragen wollen. Inzwischen kommt es auch zu immer mehr Fällen von «stiller Verweigerung». Damit sind Reservisten gemeint, die ohne Angabe von Gründen einfach dem Militärdienst fernbleiben. Das Phänomen hat offenbar dramatische Ausmasse angenommen. Rund 100 000 Reservisten würden derzeit ihre Einberufungsbefehle missachten, schätzt ein gut vernetzter Veteran der Spezialkräfte.
Manche Soldaten wollen aus politischen Gründen nicht mehr kämpfen. Andere sind einfach nur mit ihren Kräften am Ende. «In meiner Einheit gibt es etliche Männer, die erschöpft sind. Sie haben ihre Arbeit verloren, ihre Kinder kaum mehr gesehen, und ihre Beziehungen sind zu Bruch gegangen», sagt ein 28-jähriger Artillerieoffizier, der über 200 Tage in Gaza gedient hat und anonym bleiben will. «Viele sind zudem wütend, dass sie die ganze Bürde tragen müssen, während die Ultraorthodoxen immer noch keinen Dienst leisten.»
Unklare Zielsetzung und Verrohung
Israel werde wegen der fehlenden Reservisten wohl seine Operationen in Gaza nicht wie geplant durchführen können, gestand inzwischen der Generalstabschef Eyal Zamir ein. Aber auch bei jenen, die noch kämpfen wollen, macht sich der Verschleiss bemerkbar. Viele Soldaten seien ausgelaugt und traumatisiert, sagt Tuly Flint, ein ehemaliger Offizier und Spezialist in Trauma-Therapie, der während der ersten Monate des Gaza-Krieges als Armee-Therapeut diente und inzwischen ebenfalls verweigert.
Zudem habe der Krieg mit seiner unklaren Zielsetzung zu einer Verrohung in der Truppe geführt. «Soviel ich weiss, kam es niemals zuvor in der Geschichte der israelischen Armee zu so vielen Kriegsverbrechen wie in Gaza», sagt Flint. Der Frust und die scheinbare Ausweglosigkeit führten zu mehr Gewalt. Man sehe den anderen dann nicht mehr als Menschen, sondern nur noch als Feind.
Flint vergleicht die Lage mit derjenigen im Vietnam der sechziger Jahre, als die damalige Wehrpflichtigen-Armee der USA im Sumpf eines ewigen Krieges mit unklaren Zielen versank. Während die Moral der Truppe zerfiel, taten sich an der Heimatfront tiefe Gräben auf – ähnlich wie in Israel heute. Vietnam war für die Amerikaner jedoch weit weg. Von Tel Aviv nach Gaza sind es hingegen nur 70 Kilometer. Der Krieg bedrohe daher den Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft, glaubt Flint. «Er ist eine Gefahr für die Existenz unseres Landes.»