Dem FPÖ-Chef Herbert Kickl fehlt das Charisma seiner Vorgänger Jörg Haider oder Heinz-Christian Strache, und er galt als zu aggressiv für die erste Reihe. Ausgerechnet er steht nun vor dem Wahlsieg – und plötzlich spricht auch Österreich über eine Brandmauer.
«Herbert, Herbert, Herbert», skandiert die Menge. Viele stehen mit gezückten Smartphones auf den Festbänken, andere schwenken rot-weiss-rote Fähnchen oder Schilder mit der Aufschrift «Kickl, wer sonst?». Der FPÖ-Chef legt kurz die Hand aufs Herz, deutet eine Verbeugung an und winkt den Parteifreunden in der Grazer Messehalle zu. Sie sollen an diesem Abend auf den Endspurt des Wahlkampfs eingeschworen werden, an dessen Ende die Freiheitlichen laut allen Umfragen als Sieger dastehen könnten.
Als «unser künftiger Volkskanzler» wird Kickl von der Moderatorin der Veranstaltung denn auch auf die Bühne gebeten. Es ist eine gezielte Provokation. Die nationalsozialistische Propaganda prägte den Begriff einst für Adolf Hitler, bevor dieser sich nach der Machtübernahme Führer nennen liess. Die Freiheitliche Partei weist den Bezug jeweils zurück. Auch Leopold Figl habe sich schon so bezeichnet, der erste Bundeskanzler der Zweiten Republik.
Aber Herbert Kickl verwendet den Begriff inflationär – trotz oder wegen der damit ausgelösten Empörung. Er nutzt ihn als Domain seiner Website, er prangt mit seinem Konterfei auf Ansteckknöpfen, den Westen der Parteifunktionäre und einem vor der Messehalle parkierten Fahrzeug. «Zuerst kommt das Volk und dann der Kanzler. Nichts anderes bedeutet Volkskanzler», so erklärt der FPÖ-Chef ihn in seiner Rede in Graz simpel. Es heisse ja in Artikel 1 der Verfassung, das Recht gehe vom Volk aus. Niemand brauche sich davor zu fürchten.
«Wir würden es einfach machen»
Die Aussage ist typisch für Herbert Kickl. Was für andere ein Tabubruch ist, spricht er oft mit geradezu genüsslicher Selbstverständlichkeit aus. «Natürlich brauchen wir Remigration», ruft er etwa von der Grazer Bühne und wiederholt das Wort mit Betonung auf jeder Silbe: «Re-mi-gra-tion». Nur seien Abschiebungen die teuerste und mühsamste Variante dafür. Besser sei, zu verhindern, dass die «Völkerwanderer» überhaupt kämen, meint Kickl kämpferisch und unterstreicht die Dringlichkeit mit gereckter Faust. Österreich werde deshalb unter seiner Führung keine Asylanträge mehr annehmen, verspricht er den johlenden Anhängern im Saal. «Wir sind nicht zuständig für diese Leute aus Syrien, Afghanistan oder Somalia.»
Einwände, ein völliger Asylstopp widerspreche der europäischen Rechtslage, wischt Kickl weg. «Wir würden es einfach machen», sagte er dazu im ORF gelassen und wiederholt auch das: «einfach machen». Das Asylrecht solle per Notgesetz ausgesetzt werden, heisst es im aktuellen Wahlprogramm.
Mit der gleichen Nonchalance spricht Kickl von einem angeblichen «Bevölkerungsaustausch», von seiner Fahndungsliste, auf der auch der Bundeskanzler stehe, oder von EU-Irrsinn. Kürzlich nannte er die Ehrengäste der Salzburger Festspiele eine «Inzucht-Party».
Die vorprogrammierte Aufregung von Medien und politischer Konkurrenz scheint der FPÖ-Chef zu geniessen. Während seine Vorgänger sich auch einmal entschuldigten für Entgleisungen, weicht er nie zurück, sondern doppelt nach. Als die freiheitliche Jungpartei im vergangenen Jahr in einem Video mit rechtsextremer Bildsprache und der Inszenierung des «Hitler-Balkons» der Wiener Hofburg schockierte, relativierte er das nicht, sondern nannte das Machwerk grossartig.
Diese Aggressivität stand Kickls politischer Karriere im auf Konsens bedachten Österreich lange im Weg. Sein Mentor Jörg Haider, der die FPÖ in den späten achtziger Jahren als rechtspopulistische Partei neu erfand und 1999 zu ihrem bisher grössten Wahlerfolg führte, hielt ihn deshalb bewusst von offiziellen Funktionen fern. Er habe früh erkannt, dass Kickl ein hervorragender Stratege sei, aber kein Sympathieträger für die breite Öffentlichkeit, schreiben Gernot Bauer und Robert Treichler in ihrer im Frühling erschienenen Biografie. Auch der zweite prägende FPÖ-Chef der letzten Jahrzehnte, Heinz-Christian Strache, äusserte sich ähnlich.
Kickl ist kein Volksverführer, sondern ein Einzelgänger
Kickl fehlen der Charme Haiders und das Kumpelhafte Straches. Beide waren begnadete Volksverführer, stets umschwärmt von Sympathisanten und Journalisten. Dagegen ist Kickl ein misstrauischer Einzelgänger. Ausschweifungen wie Straches folgenreiches Wodka-Gelage auf Ibiza würde er sich nie leisten. Bei seiner standesamtlichen Hochzeit waren nicht einmal Trauzeugen dabei. Einen Volkstribun mit Kontaktstörung nennen ihn Bauer und Treichler.
1995 schloss sich Kickl als Studienabbrecher der FPÖ an, er ist damit ein Urgestein der Partei. Aber er war über Jahrzehnte der Mann im Schatten zunächst Haiders, für den er Reden schrieb, und dann Straches, dessen Stratege er wurde. In dieser Rolle war Kickl unentbehrlich für die FPÖ. Er richtete sie als «soziale Heimatpartei» aus und entwickelte einige ihrer bekanntesten Slogans, «Daham statt Islam» etwa. «HC» Strache machte er zu einem politischen Pop-Star, der trotz einer Vergangenheit am ganz rechten Rand 2017 Vizekanzler wurde.
Dabei fehlt Kickl eigentlich der freiheitliche Stallgeruch. Er hat anders als Haider und Strache keine Berührungspunkte zum deutschnationalen Burschenschafter-Milieu und meidet auch den von diesem veranstalteten Akademikerball, ein Stelldichein der rechten Szene. Und obwohl er zuweilen mit seinem Philosophiestudium kokettiert, ist er auch kein Akademiker. Mit seiner Herkunft aus einer Kärntner Arbeiterfamilie ist Kickl den Wählern der FPÖ näher als vielen Funktionären. In der Partei ist er deshalb eher respektiert als beliebt, auch weil er gegen innen ähnliche Härte zeigen kann wie gegen aussen.
Dass just dieser Mann ohne interne Hausmacht und ohne Strahlkraft 2021 an die Spitze der Partei aufsteigen konnte, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen wurde er in der gemeinsamen Regierung mit der ÖVP unter Sebastian Kurz Innenminister und verantwortete damit die Migrationspolitik, das freiheitliche Kernthema.
Von seiner Amtszeit bleiben die nutzlose Anschaffung von Polizeipferden sowie die neue Beschriftung der beiden Asyl-Erstaufnahmezentren als «Ausreisezentrum» in Erinnerung. Folgenreich war allerdings die widerrechtliche Razzia der Polizei beim Verfassungsschutz, worauf Österreich wegen Sicherheitsbedenken vorübergehend vom internationalen Informationsaustausch abgeschnitten war. Die Asylzahlen gingen unter Kickl zwar zurück, die Entwicklung hatte aber schon vor ihm eingesetzt und erfolgte europaweit.
Dennoch wurde er als einziges FPÖ-Regierungsmitglied wahrgenommen, das freiheitliche Anliegen vertritt. Für die Basis verstärkte sich dieser Eindruck noch, als die ÖVP nach dem Platzen des Ibiza-Skandals neben dem Rücktritt Straches auch denjenigen Kickls verlangte, der in die Affäre nicht involviert war. Das konnte die FPÖ nicht akzeptieren, die Koalition scheiterte. Kickl wurde für seine Partei zu einer Art Märtyrer.
Plötzlich war der Mann aus der zweiten Reihe ein Star
Zum anderen verhalf ihm die Pandemie zu Popularität. Nach «Ibiza» und ohne ihren Frontmann Strache war die FPÖ auf Sinnsuche, bei der Wahl 2019 stürzte sie ab. Die restriktiven Corona-Massnahmen bis hin zu einer – nicht umgesetzten – Impfpflicht weckten Widerstand, der sich zunehmend radikalisierte. Führende Köpfe der Freiheitlichen wie der Parteichef Norbert Hofer wollten die Massnahmengegner auf Abstand halten. Kickl jedoch schürte die Proteststimmung und setzte sich an die Spitze der Bewegung. Plötzlich war der Mann für die zweite Reihe ein Star, dem die Massen zuströmten. Als Kickl das realisierte, verdrängte er Hofer unsanft von der Spitze.
Dennoch fremdelt der 55-Jährige oft etwas mit der Zuneigung, die ihm entgegengebracht wird. Als er in Graz zur Musik von «Final Countdown», umringt von Kameras und fahnenschwingender Parteiprominenz, in die Halle einzieht, ist er kaum zu sehen und wirkt eher steif. Bei seiner Rede an die «lieben Freunde» ist er mal angriffig, mal spöttisch, aber nie wirklich gelöst.
Erst als er später für Selfies posiert, scheint Kickl lockerer. Vor der Absperrung bildet sich eine grosse Menschenmenge, die einzeln oder in kleinen Gruppen zu ihm vorgelassen wird. Er schüttelt Hände, lacht, legt für die Fotos freundschaftlich die Arme auf die Schultern seiner Fans – scharf beobachtet von zwei Sicherheitsleuten in unmittelbarer Nähe. Die Tuchfühlung erfolgt kontrolliert. Dass Kickl sich ungezwungen unter Partygäste mischt wie einst Haider in den mondänen Lokalen am Wörthersee oder Strache in den Wiener Discos, ist schwer vorstellbar. Er ist ein unnahbarer Populist.
Ausgerechnet Kickl könnte nun aber erreichen, was seine beiden viel charismatischeren Vorgänger erfolglos anstrebten: Platz eins bei einer Nationalratswahl und die Legitimität, auf das Kanzleramt Anspruch zu erheben. Das hat in Österreich zu einer intensiven Debatte um eine «Brandmauer» gegen die FPÖ geführt – ein Begriff, der in diesem Zusammenhang neu ist für das Land.
Der Umgang mit der Partei ist zwar schon seit Jahrzehnten eine bestimmende Debatte, aber anders als die AfD in Deutschland ist die FPÖ etabliert. Sie regiert derzeit in drei von neun Bundesländern mit und tat dies auch auf nationaler Ebene schon drei Mal, zuletzt unter Kurz bis zum Ibiza-Skandal vor fünf Jahren. Sie gehört damit längst zum «System», gegen das Kickl rhetorisch ankämpft.
«Wir haben ihn falsch eingeschätzt», sagt der Bundeskanzler
Unter ihm haben sich die Freiheitlichen indes radikalisiert, sprachlich ebenso wie inhaltlich. Leitartikler, Kulturschaffende und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens warnen deshalb vor der Gefahr für die Demokratie, sollten sie wieder an die Macht kommen. Alle Parteien schliessen ein Bündnis mit Kickl aus – auch die ÖVP, die mit ihm regierte und ihn zum Innenminister machte. Nun nennt ihn der konservative Bundeskanzler Karl Nehammer einen Rechtsextremen und Verschwörungstheoretiker, der verantwortungslos handle und Angst schüre. «Wir haben ihn falsch eingeschätzt», sagte er im Gespräch mit der NZZ auf die Frage, was sich gegenüber 2017 geändert habe.
Der FPÖ-Chef hat für die Bedenken nur Spott übrig. «Meine Güte, ist das retro!», ruft er in Graz aus, als er auf die «Boykottaufrufe von sogenannten Prominenten» zu sprechen kommt. Die Österreicher wählten so, wie sie dächten. «Sie brauchen keine Gebrauchsanweisung», höhnt Kickl und erntet Gelächter von den Festbänken. Es sei viel zu tun, so fasst er gegen Ende seiner 75-minütigen Rede das Programm zusammen. Nichts von dem, was er gesagt habe, sei rechtsextrem oder gefährlich für die Demokratie. «Ich glaube, es ist ganz normal.»