Die Räumlichkeiten des Gebäudes an der Friedrichstrasse sollen mit Büchern gefüllt werden. Das wäre ein Glücksfall für das Stadtviertel, trotz angeblichen Lesekrisen.
Wenn die Kaufhäuser sterben, dann sterben die Innenstädte. Oder ist es umgekehrt? Nach längerem Siechtum, aber noch früher als gedacht, wird jetzt die berühmte Berliner Filiale der Galeries Lafayette schliessen. 1996 von Jean Nouvel als imposantes Glasgebäude entworfen, sollte das Haus dazu beitragen, die Friedrichstrasse in Mitte zum zweiten Kurfürstendamm zu machen. Zur noblen Flaniermeile.
Fast dreissig Jahre später flaniert niemand mehr durch die gleichermassen lange wie öde Häuserschlucht. Verkehrsberuhigt und zu einer Art Fahrradautobahn umgewidmet, ist das Strassenstück trotz seiner perfekten Lage ein urbanes Debakel.
Da hatte der neue, als politischer Quereinsteiger zu seinem Posten gelangte Berliner Kultursenator Joe Chialo von der CDU eine Idee. Warum nicht aus dem aufsehenerregenden Gebäude etwas ganz anderes machen? Eine Bibliothek? Als der Vorschlag letzten Herbst im Kulturausschuss vorgetragen wurde, war die Begeisterung gross.
Für höhere geistige Zwecke
Seit Jahrzehnten sucht Berlin nach einem geeigneten neuen Platz für eine der grössten städtischen Bibliotheken Europas, die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB). Tatsächlich wirkt das Gebäude von Jean Nouvel, als wäre es für höhere geistige Zwecke gebaut, als es banale Warenhäuser sind. Mit seiner leichten, ganz offen gehaltenen Architektur könnte es zum Ort einer Volksbibliothek werden, deren Kern aus den sozialen Bildungsideen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts stammt.
3,5 Millionen Medien hält die ZLB heute für die Nutzer bereit. In Modellen wurde berechnet, dass die neue Verwendung der ehemaligen Galeries Lafayette 10 000 Besucher täglich bringen könnte. Dieser Wert deckt sich mit Erfahrungen, die man von Paris über Amsterdam bis Hamburg in den letzten Jahren gemacht hat. Die oft in spektakulärer Architektur untergebrachten Wissensspeicher sind trotz den behaupteten Lesekrisen Publikumsmagnete. Sie können ganze Stadtviertel beleben und neu durchmischen.
Im Fall von Berlins Mitte wäre das ein Glücksfall, der sogar die Kulturpessimisten heiter stimmen könnte. In der Stadtpolitik allerdings fliegen gerade die Messer. Wichtige Teile der SPD stellen sich gegen das Projekt, unter anderem weil man der CDU den Triumph nicht gönnen will.
Auch der Zeitdruck wächst. Die Galeries Lafayette ziehen jetzt schon im Juli und damit wesentlich früher als geplant aus dem Gebäude aus. Der Immobilienkonzern Tishman Speyer als Besitzer würde 589 Millionen Euro verlangen. Ein Schnäppchen, gemessen an bisherigen Standortplänen für die ZLB, aber noch scheint das Vorhaben nicht im Berliner Haushalt auf. Es ist eine lange Geschichte, die glücklich enden könnte oder mit grossem Katzenjammer.
Furchtlose Bibliotheksbesucher
Der jetzige Hauptstandort der ZLB, die 1954 eröffnete Amerika-Gedenkbibliothek, müsste dringend saniert und erweitert werden. Über eine Alternative am ehemaligen Flughafen Tempelhofer Feld wurde lange nachgedacht, bis das Projekt 2014 gekippt wurde. 2018 beschlossene Gelder für die Erweiterung der Amerika-Gedenkbibliothek wurden im letzten Jahr durch die vom neuen CDU-Bürgermeister Kai Wegner geführte Stadtpolitik gestrichen. Über 620 Millionen Euro hätte allein der Erweiterungsbau an der jetzigen Amerika-Gedenkbibliothek verschlungen, sonstige Sanierungen des vollkommen verschlissenen Hauses nicht eingeschlossen.
Der ehemalige Einkaufspalast Jean Nouvels würde sich indessen als erstaunlich zeitresilient erweisen. Die Tragkraft seiner fünf Stockwerke ist für den massenweisen Verkehr von Büchern und Publikum genauso gut geeignet wie die Warenaufzüge. Wo früher den Einkäufern breite Fluchtwege zur Verfügung standen, werden auch die Nutzer einer neuen Bibliothek nichts zu fürchten haben. Der Zeitdruck an der Friedrichstrasse wächst. Wenn jetzt nur die Berliner Politik nicht wieder davonläuft!