Vor der Erstaufführung von Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» in Zürich gibt es Zensurvorwürfe gegen die Regie von Kirill Serebrennikow. Für Jerofejew, den Autor der Textvorlage, geht die Brisanz des Stücks jedoch über politische Anspielungen hinaus.
So beginnt ein Albtraum: In die geschlossene Welt einer Zweierbeziehung bricht plötzlich ein Dritter ein. Er nimmt sich, was er will, demoliert erst den Hausstand, dann die Beziehung, indem er die Frau schwängert und sich anschliessend auch den Mann sexuell gefügig macht. Das alles passiert willkürlich, scheinbar ohne höheren Plan, denn der Eindringling war zuvor Insasse eines Irrenhauses, er kann sich einzig durch vielstimmig gekrächztes «Äch!» verständlich machen – mit anderen Worten: Dieser Dritte ist ein vollkommener Idiot. Wer wollte schon mit so einem Typen zusammenleben.
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew, seit langem auch Autor der NZZ, hat aus diesem wüsten Stoff im Jahr 1980 eine Kurzgeschichte gemacht. Ihr provokativer Titel: «Leben mit einem Idioten». Die Short-Story genoss alsbald Kultstatus in der Spätphase der Sowjetunion, obwohl sie erst 1991, nach dem Untergang der UdSSR, offiziell publiziert werden konnte. Doch schon zuvor wanderte der Text in den Kreisen der Untergrundliteratur von Hand zu Hand.
Seine Faszination, die noch heute zu spüren ist, beruht auf der Offenheit für unterschiedlichste Deutungen – eine Eigenschaft, die viele Werke von Dissidenten aus diktatorischen Systemen verbindet. Und so kann man Jerofejews soziale Versuchsanordnung unter anderem als Parabel verstehen. Oder als deftige Politsatire.
Zensurvorwürfe in Zürich
Dafür hat der Autor ein paar Hinweise eingestreut. So trägt der «Idiot», der das Verderben über den Ich-Erzähler und dessen Frau bringt, den Rufnamen «Wowa», eine Kurzform für Wladimir. Ausserdem ist er rothaarig und liebt volkstümliche Gesänge wie das «Lied von der Birke». Für russische Leser war dies leicht als Anspielung auf Wladimir Iljitsch Lenin zu entschlüsseln. Als politische Satire gelesen, zeigt die Erzählung also, wie dessen Ideologie selbst in den privatesten zwischenmenschlichen Bereich eindringt und Menschen buchstäblich deformiert.
Jerofejew, der Russland nach dem Überfall auf die Ukraine Anfang 2022 den Rücken gekehrt hat und seither im Exil lebt, lehnt diese verbreitete Deutung zwar nicht ab, auch heute nicht, bald 45 Jahre nach der Niederschrift. Er lässt aber im Gespräch durchblicken, dass es ihm mit dem Text literarisch immer schon um mehr ging als um eine historisch klar verortete, dadurch aber zeitgebundene Satire. Wohl auch deshalb ist er dieser Tage nach Zürich gekommen, um am hiesigen Opernhaus den Proben zur gleichnamigen Opernfassung von «Leben mit einem Idioten» beizuwohnen, die er gemeinsam mit dem Komponisten Alfred Schnittke (1934–1998) Anfang der 1990er Jahre erarbeitet hat.
Deren geplante Schweizer Erstaufführung am 3. November hat bereits im Vorfeld für Aufsehen gesorgt. Nachdem eine Recherche der «NZZ am Sonntag» nachgewiesen hatte, dass in der Inszenierung des Regisseurs Kirill Serebrennikow an über achtzig Stellen Eingriffe in den Werktext vorgenommen werden, stand die Frage nach einer möglichen Zensur unliebsamer Verweise auf die Verhältnisse in Russland im Raum. Das Opernhaus widersprach. Es handle sich um Anpassungen, wie sie im Rahmen eines Produktionsprozesses üblich und zulässig seien.
Ein absurder Gottesnarr
Jerofejew, der seine Erzählung selbst zur Textvorlage für Schnittke umgestaltet hat, nimmt die Angelegenheit gelassen. Von Zensur will er nicht sprechen. Er habe sich, erzählt er, mit Serebrennikow, seinem inzwischen ebenfalls exilierten Landsmann, intensiv ausgetauscht. Und er könne nachvollziehen, dass der Regisseur konkrete Anspielungen auf die Geschichte und das Leben in der ehemaligen Sowjetunion vermeiden wolle. Zumal bestimmte Details wie das «Lied von der Birke» heutzutage nur noch von wenigen als Persiflage auf die einst vom sozialistischen Realismus verordnete Volkstümlichkeit verstanden werden dürften. Serebrennikow gehe es in erster Linie darum, aus Schnittkes 1992 in Amsterdam uraufgeführter Oper einen lebendigen, prallen Musiktheaterabend zu machen.
Ob es da nicht naheliege, das Rad der Geschichte in die Gegenwart weiterzudrehen? Also Bezug zu nehmen auf die Verhältnisse im heutigen Russland? Jerofejew hält das für denkbar, aber die Figur des Idioten einfach mit Putin – immerhin auch ein «Wowa» – gleichzusetzen, erscheint ihm zu einfach und eindimensional. Zwar hat Jerofejew die Politik des Autokraten schon 2009 und 2014, nach der Besetzung der Krim, mutig kritisiert; als Mensch sei Putin aber «nicht interessant genug», um als Modell für die schillernde Bühnengestalt des Idioten dienen zu können.
Wer aber ist dieser Idiot dann, der ja nicht nur das Leben des auch in der Oper «Ich» genannten Erzählers ruiniert, sondern schliesslich sogar dessen Frau den Kopf mit der Gartenschere abtrennt? Jerofejew verweist auf die Tradition ähnlich surreal anmutender Erscheinungen in der russischen Literatur, namentlich auf Nikolai Gogols Novelle «Die Nase». Darin entwickelt das Riechorgan des Kollegienassessors Kowaljow ein bizarres Eigenleben, mit dem es seinen Besitzer gründlich blossstellt, bevor es an seinen Platz zurückkehrt. Möglich also, den Idioten entsprechend als schrille Personifizierung von Ängsten und Aversionen zu verstehen, die sich in die Zweierbeziehung geschlichen haben und nun mit Gewalt hervorbrechen.
Jerofejew gefällt auch der immer wieder hergestellte Bezug auf die alte russische Tradition des «Gottesnarren», der seinen bekanntesten Auftritt in Puschkins und in Mussorgskys «Boris Godunow» hat: Als Einziger darf der «Jurodiwy» dem Mächtigen ungestraft die Wahrheit ins Gesicht sagen. Bei Jerofejew wird diese spezifische Narrenfreiheit allerdings dadurch ad absurdum geführt, dass der Idiot ausser seinem fortwährenden «Äch!» gar nichts zu sagen hat. Stattdessen handelt er, ohne Rücksicht, brachial und instinktgetrieben.
Ungeschminkt
Vermutlich war es gerade das Schillernde der Figur, das Alfred Schnittke anzog, als er Jerofejews Erzählung bei einer Lesung im privaten Kreis kennenlernte. Auf seinen Wunsch hin verfasste der Autor zum ersten Mal ein Libretto, haderte mit dem Entwurf und war dann völlig verblüfft, als Schnittke ihm nach Wochen des Schweigens mitteilte, er sei bereits beim Komponieren. In der Offenheit des Textes fand Schnittke anscheinend ein ideales Spielfeld für seine Musik, die ebenso vielstimmig in unterschiedlichsten Zungen zu reden versteht – was Schnittke die Bezeichnung «Polystilist» eingetragen hat.
Dass bei der Uraufführung dann aber doch wieder die Lenin-Satire in den Vordergrund rückte und seither wie ein Etikett an dem Stück klebt, war Zufall. Jerofejew hat die Geschichte in seinem jüngsten Buch «Der grosse Gopnik» erzählt. Bei den Proben seien in Amsterdam Zweifel aufgekommen, weil die Rolle des Idioten mit einem schwarzen Sänger, Howard Haskin, besetzt worden war. Um jeden Vorwurf einer Diskriminierung im Keim zu ersticken, schlug Jerofejew vor, Haskin kurzerhand weisszuschminken.
Der Intendant Pierre Audi, zunächst begeistert, erkannte gerade noch, dass dies die Hautfarbe womöglich erst recht zum Thema gemacht hätte. Als Lösung ersann man die Lenin-Maske. Heute ist Jerofejew nicht unglücklich darüber, dass in Zürich ein anderer Weg beschritten wird. Hier trete der Idiot unmaskiert vors Publikum, verrät er. Im umfassendsten Sinne. Er sei nämlich nackt.