Die Ernennung eines Ökonomen auf den Posten des russischen Verteidigungsministers überrascht. Doch der Schritt des Kremls hat seine Logik. Wer den Krieg gewinnen will, muss im Wettlauf um die Mobilisierung der wirtschaftlichen Ressourcen siegen.
Ein Verteidigungsminister, der keinen einzigen Tag Militärdienst geleistet hat und seine ganze Karriere fernab der Sicherheitsstrukturen verbracht hat, ist im Westen nichts Unerhörtes mehr. Doch in Russland kommt dies einer Sensation gleich. Zwar hat Präsident Putin in seiner bald 25-jährigen Herrschaftszeit nie einen Armeevertreter auf diesen Schlüsselposten gesetzt. Das war ein Bruch mit sowjetischen Traditionen. Aber alle seine Verteidigungsminister hatten einen mehr oder weniger starken Hintergrund im Sicherheitsapparat. Die Beförderung des Wirtschaftswissenschafters Andrei Belousow verblüfft deshalb und wirft die Frage nach Putins Absichten auf.
Wäre es dem Präsidenten um die überfällige Verjüngung der Militärspitze gegangen – der bisherige Minister Sergei Schoigu und der Generalstabschef Waleri Gerasimow werden beide bald 69 Jahre alt –, so hätte er einen jüngeren Kadermann aus dem Hut gezaubert. Doch der 65-jährige Belousow steht selber schon im Pensionsalter. Hätte der Kreml die militärische Inkompetenz des bisherigen Ministers sattgehabt, so hätte er an die Stelle des Operettengenerals Schoigu, der sich trotz fehlender Armeekarriere gerne in Uniform und mit ordenbehängter Brust präsentierte, längst einen echten Offizier gesetzt.
Auch an der Loyalität Schoigus kann Putin nicht gezweifelt haben. Mit niemand sonst zelebrierte der Präsident eine derartige Männerfreundschaft, samt gemeinsamen Abenteuerausflügen in die Taiga. Wie es für Putin typisch ist, hat er seinen Gefolgsmann auch nicht in die Wüste geschickt, sondern ehrenvoll auf den Posten des Sekretärs des Sicherheitsrates wegbefördert.
Strategien für den langen Krieg
Klar ist, dass der Wechsel an der Spitze des Militärs kein Signal für Kontinuität ist. Er verrät vielmehr eine erhebliche Unzufriedenheit mit dem Gang der Dinge – selbst jetzt, da Russlands Truppen an verschiedenen Fronten wieder im Vormarsch sind. Doch als Zeichen, dass Moskau von seinem Kriegskurs abkehren könnte und dem imperialistischen Grössenwahn «ökonomische Vernunft» gegenüberstellt, sollte dies nicht missverstanden werden. Belousow ist weder ein Liberaler, noch zeigt er wie andere Ökonomen Unbehagen über den Bruch mit dem einst so wichtigen Handelspartner Europa. Er scheint Putins fatale Obsession zu teilen, dass Russland von Feinden umzingelt sei und alle Kräfte zur Verteidigung mobilisieren müsse.
Vor diesem Hintergrund ergibt der überraschende Schachzug Putins Sinn. Er hat erkannt, was kriegsentscheidend ist – nicht bloss die Zahl der Armeen, Divisionen und Brigaden, die unter Schoigu allzu oft nur auf dem Papier perfekt ausgerüstet aussahen. Es gewinnt in diesem Abnützungskrieg, wer die wirtschaftlichen Ressourcen optimal nutzt und dafür sorgt, dass die Armee erhält, was sie braucht. Der nüchterne Zahlenakrobat Belousow ist der Mann, der das Räderwerk des Krieges perfektionieren soll.
Der neue Minister dürfte die Geldflüsse im aufgeblähten Militärapparat genau unter die Lupe nehmen. Dabei geht es nicht nur um die Eindämmung der Korruption, die unter Schoigu absonderliche Blüten getrieben hatte, erkennbar beispielsweise am Luxusleben des mittlerweile verhafteten Vizeministers Timur Iwanow. Ganz generell wird Russland sein Verteidigungsministerium auf mehr Effizienz trimmen müssen, wenn es sich in der Ukraine durchsetzen will.
Vielsagend ist der Kreml-Hinweis darauf, dass der Militärapparat inzwischen rund sieben Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung koste, ähnlich wie zur Sowjetzeit, weshalb man auf diese Entwicklung ein Auge werfen müsse. In Wirklichkeit ist das durch den Krieg entstandene Missverhältnis noch krasser. Das Militär allein verschlingt ein Viertel der Staatsausgaben, und dieser Anteil ist noch viel höher, wenn man Geheimdienste, Polizei und formal «zivile» Projekte zur Absicherung der Eroberungspolitik einberechnet. Russlands Staat hat auf Kriegswirtschaft gewechselt und ordnet alles den militärischen Prioritäten unter, selbst die Sozial- und Bildungspolitik.
Rüstungspolitik statt Frontbesuche
Belousow wird als Verteidigungsminister zwar nicht die Rüstungsindustrie leiten, deren Ausbau für den Krieg entscheidend ist. Aber schon in seiner früheren Rolle als Vizeministerpräsident hat er mit seinem Projekt zur Entwicklung einer nationalen Drohnenindustrie Einsicht in neue Prioritäten gezeigt. Er dürfte darauf pochen, dass die Streitkräfte als «Kunde» der Rüstungsindustrie mit besserem und zahlreicherem Gerät bedient werden.
Dagegen sind von ihm keine publizitätsträchtigen Frontbesuche und Lagebesprechungen mit Generälen zu erwarten. Das stärkt auf den ersten Blick die Rolle des Generalstabschefs Gerasimow, der seine Befehle wohl zunehmend vom Präsidenten und nicht mehr vom Verteidigungsminister erhalten wird. Aber es würde nicht überraschen, wenn Belousow beim Ausmisten seines Ministeriums bald auch einen fähigeren Generalstabschef fordern wird.
Der geplanten «Friedenskonferenz» in einem Monat in der Schweiz zum Trotz: Russland denkt nicht im Geringsten an Frieden, sondern entwickelt vielmehr Strategien, wie es den Krieg noch über viele Jahre durchhalten und sogar ausdehnen kann. Der Westen verschliesst sich zum eigenen Schaden der Tatsache, dass er in einer militärischen Machtprobe um die Zukunft Europas steckt. Russland dagegen sieht sich im Krieg nicht bloss mit der Ukraine, sondern mit dem ganzen Westen – und ölt nun mit Fachleuten wie Belousow die Maschinerie des Tötens für künftige Schlachten.