Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat bisher über zehn Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Daten zeigen: Viele von ihnen wollen zurück in die Heimat. Die Gastländer sollten sie dennoch bestmöglich integrieren.
Viele in Europa sind schon abgestumpft. Doch auch über 1000 Tage nach Beginn des russischen Überfalls muss, kaum zweieinhalb Flugstunden von Zürich entfernt, ein europäisches Volk unermessliches Leid über sich ergehen lassen.
Woche für Woche schiesst das russische Militär neue Wellen von Raketen in Städte weitab von der Front, um dort gezielt die Energieversorgung zu zerstören und die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Wladimir Putin setzt auf menschenverachtende Weise immer neue Heerscharen dazu ein, den Ukrainern Stückchen für Stückchen ihre Heimat zu rauben. Amerikanische Quellen schätzen die Zahl der im Gefecht gefallenen Russen inzwischen auf etwa 200 000.
Aus frontnahen Siedlungen und Städten wird berichtet, dass das russische Militär mit Drohnen gezielt Jagd auf Zivilisten macht. In der Ukraine gibt es kaum noch jemanden, der nicht Verwandte oder Bekannte hat, die getötet oder verletzt wurden. Fast ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets ist von Russland erobert worden, knapp ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung ist geflüchtet.
Auf ganz Europa verteilt
Der Westen hat bisher hilfsbereit reagiert. Im April 2022 zählte das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 5,7 Millionen Menschen, die aus der Ukraine ins Ausland geflüchtet waren. Heute sind es 6,8 Millionen. Dazu kommen 3,7 Millionen Vertriebene innerhalb der Ukraine. Das sind insgesamt 10,5 Millionen Flüchtlinge. 53 Prozent von ihnen fanden damit im westlichen Ausland Zuflucht, 35 Prozent flohen in den Westen der Ukraine, 12 Prozent gingen nach Weissrussland oder Russland.
Der Grossteil der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer ist unmittelbar nach Kriegsausbruch in die osteuropäischen Nachbarländer geflüchtet. Da viele Männer Wehrdienst leisten müssen, besteht die Mehrheit der Geflüchteten aus Frauen, Kindern und Älteren. 3,1 Millionen Menschen brachten sich zuerst im benachbarten Polen in Sicherheit, rund 850 000 in Rumänien und eine weitere halbe Million in Ungarn. Nach den ersten Kriegsmonaten ist ein Teil von ihnen in die Westukraine zurückgekehrt, andere zogen in Staaten weiter, zu denen sie private Verbindungen haben.
Laut den neusten UNHCR-Daten hat Deutschland mit 1,2 Millionen Menschen absolut gesehen inzwischen am meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen, vor Polen mit 1 Million. Rumänien meldet noch knapp 173 000 Ukraine-Flüchtlinge im Land, etwa so viele wie Italien, Ungarn noch 62 000.
Gemessen an der Bevölkerung sieht das Bild allerdings ausgeglichener aus. Pro tausend Einwohner leben in der Moldau nun 50 Ukrainerinnen und Ukrainer, 36 in Tschechien, 28 in Estland, 24 in Polen, 22 in Irland und 12 in Finnland. Damit haben die osteuropäischen und nordeuropäischen Staaten relativ gesehen am meisten Flüchtlinge aufgenommen.
Ebenfalls sehr aufnahmewillig war Liechtenstein mit 17 Personen pro 1000 Einwohner. In Deutschland sind es gegenwärtig 15, in Österreich 9 und in der Schweiz 8 Ukrainerinnen und Ukrainer pro 1000 Einwohner.
Die Verschiebungen der vergangenen zwei Jahre lassen vermuten, dass sich manche Geflüchtete darauf einstellen, eine neue Heimat für eine längere Zeit suchen zu müssen. So sind bis Sommer 2024 über 388 000 Personen in die USA und 298 000 nach Kanada gezogen.
Laut einer neuen UNHCR-Umfrage planten und hofften diesen Sommer noch 61 Prozent der nach Europa Geflüchteten, möglichst bald in ihr Heimatland zurückzukehren. 27 Prozent waren sich unsicher, ob das möglich ist, und 12 Prozent hatten die Hoffnung auf eine Rückkehr aufgegeben.
Erwerbstätigkeit vielenorts noch zu gering
Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben es allerdings nicht einfach in ihren Gastländern. Vor allem in den westeuropäischen Staaten war die Erwerbsbeteiligung der Geflüchteten zu Beginn sehr tief. Das hat wohl auch damit zu tun hat, dass sie sich zuerst zurechtfinden und die Sprache lernen müssen und oft Kinder zu betreuen haben. Doch eine längere Absenz vom Arbeitsmarkt führt zu beiderseitigen Irritationen und steht einer raschen Integration entgegen.
Womöglich setzen manche Gastländer mit bürokratischen Markteintrittsbarrieren und mit grosszügiger finanzieller Unterstützung auch falsche Arbeitsanreize. Einzelne Geflüchtete mögen auch noch aus der Ferne Arbeit für die Ukraine leisten.
Die Statistiken zeigen, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer integrationswillig sind. Die Erwerbsquoten in den westlichen Gastländern sind zwar noch tief, sie erhöhen sich aber kontinuierlich. In der Schweiz gingen im Sommer 2022 erst 9 Prozent der Geflüchteten einer Arbeit nach, im Herbst 2023 waren es 20 Prozent, inzwischen ist die Erwerbsquote auf 29 Prozent gestiegen.
Die meisten europäischen Länder berichten, dass die Ukrainer vor allem einfache Arbeit im Dienstleistungssektor gefunden haben. Dies dürfte damit zu tun haben, dass viele ihre angestammten Berufe nicht ausüben können. In der Schweiz ist immerhin ein Fünftel im IT-Sektor tätig und ein weiterer Fünftel im Gastgewerbe.
Schlimmer als einst im Winterkrieg
Doch was sind die Perspektiven der Geflüchteten und ihres Heimatlandes? Der wieder zum amerikanischen Präsidenten gewählte Donald Trump hat verkündet, Russland und die Ukraine mit einer Mischung aus Drohungen und Anreizen rasch dazu bewegen zu wollen, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Zu seinem Verhandlungsbeauftragten hat er den pensionierten Generalleutnant Keith Kellogg ernannt, der im vergangenen Frühling dazu bereits einen Plan skizziert hat.
Wladimir Putin zeigt sich davon bis anhin allerdings wenig beeindruckt. Offen ist, wie er dazu zu bewegen ist, sein Ziel aufzugeben, die Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen oder wenigstens den ihm nicht gefügigen Teil so in Schrecken und Unsicherheit zu versetzen, dass an ein normales Leben nicht mehr zu denken ist.
Vorerst scheint Putin jedenfalls den Widerstandswillen in der Ukraine und im diese unterstützenden Westen weiter schwächen zu wollen. Eine erneute Flüchtlingswelle dürfte ihm dazu gelegen kommen. Der Winter in der Ukraine ist kalt. Ohne funktionierende Stromversorgung und in ständiger Angst könnte Russland nochmals viele Ukrainerinnen und Ukrainer in die Flucht treiben.
Sollte es danach zu einem Waffenstillstand kommen, der die Front mehr oder weniger einfriert, wäre mindestens ein Fünftel ihres Staatsgebiets für die Ukrainer bis auf weiteres verloren und wohl über ein Viertel der Bevölkerung auf der Flucht. Das wäre schlimmer als das Schicksal, das die Finnen nach dem Winterkrieg erlitten, die 1940 9 Prozent ihres Territoriums an Stalin abtreten mussten und 12 Prozent ihrer Bevölkerung umsiedelten.
Damit die in den Westen geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren und dort ein neues Leben aufbauen können, müsste zumindest militärisch garantiert sein, dass es Putin nicht mehr möglich sein wird, erneut Zerstörung über den unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Teil des Landes zu bringen. Wie wahrscheinlich dies ist, wird vom Wehrwillen des Westens abhängen.
Aktive Integration ist die beste Hilfe
In vielen Gastländern beginnen derweil Teile der Bevölkerung, über die vielen Ukrainer und die mit ihrer Beherbergung verbundenen Kosten zu klagen. Manche nehmen es den Neuankömmlingen übel, wenn sie nach dem erlebten Schrecken das Leben geniessen oder gar feiern wollen. Oder wenn manche offensichtlich falsche Vorstellungen von den im Gastland herrschenden Verhältnissen und Schwierigkeiten haben. Doch kritisieren hilft nicht weiter.
Realistischerweise sollten sich Gesellschaft und Politik auf eine möglicherweise noch längere Präsenz der ukrainischen Flüchtlinge einstellen (die ja darauf zurückzuführen ist, dass es dem Westen nicht gelungen ist, den ruchlosen Überfall Putins zu verhindern oder rasch zu stoppen).
Die beste Hilfe für diejenigen, die flüchten mussten, ist, sie aktiv in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt des Gastlandes zu integrieren, solange sie nicht zurückkehren können. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten dabei unterstützt werden, lokale Sprachkenntnisse zu erwerben, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und, wo nötig, ihre Ausbildung den lokalen Anforderungen entsprechend zu ergänzen. Im Gastland erworbene Fähigkeiten können auch als potenzielle Wiederaufbauhilfe verstanden werden.
Hoffentlich gelingt es, die Russen zu Vernunft und Frieden zu zwingen und so den Ukrainerinnen und Ukrainern in ihrem Heimatland bald wieder eine friedliche Perspektive zu eröffnen. Damit viele aus allen Himmelsrichtungen wieder zurückkehren und ihre Heimat mit neuem Wissen und fest integriert in die demokratische europäische Staatengemeinschaft wiederaufbauen können. Das wäre auch für den Rest Europas eine beflügelnde Perspektive.
Solange das nicht möglich ist, sollte der Westen wenigstens zeigen, dass er bereit und fähig ist, Menschen aufzunehmen und zu integrieren, die inmitten von Europa vor einem Tod, Zerstörung, Vertreibung und Repression verbreitenden Regime flüchten. Es gehört zu dem, was den Unterschied ausmacht zwischen Europas auf den Schutz des Individuums ausgerichteten Werten und der Menschenverachtung einer ruchlosen Autokratie, die ihre Untertanen in den Krieg treibt.