Russland gibt den Ukrainern im Land und in den annektierten Territorien eine letzte Chance, ihren Aufenthalt zu regeln. Sie sollen Russen werden. Damit zementiert der Kreml seinen Anspruch auf die Ost- und Südostukraine.
Der Erlass des russischen Präsidenten Wladimir Putin liest sich wie eine letzte Warnung. Spätestens bis am 10. September müssen sich ukrainische Staatsbürger auf dem Gebiet der Russischen Föderation dafür entscheiden, ihren Aufenthalt zu legalisieren oder das Land zu verlassen. Dazu gehört, dass sie sich bis im Juni unter anderem auf Infektionskrankheiten, Drogen und psychische Beschwerden testen lassen. In erster Linie richtet sich das an diejenigen Bewohnerinnen und Bewohner der besetzten und im Herbst 2022 annektierten ost- und südostukrainischen Gebiete, die noch nicht den russischen Pass angenommen haben. Mit der Einverleibung ihrer Heimat durch Russland sind sie Ausländer im eigenen Land geworden.
Die Krim als Laboratorium
Putins Ukas ist Ausdruck davon, wie wenig für den Kreml die Zugehörigkeit der eroberten Gebiete zu Russland infrage steht. Darüber gebe es nichts zu besprechen, machen Funktionäre immer wieder deutlich und weisen damit Diskussionen über territoriale Fragen im Rahmen der russisch-amerikanisch-ukrainischen Friedensbemühungen zurück.
Erlasse zum rechtlichen Status von Ukrainern in Russland gab es seit 2014, dem Beginn der gewaltsamen russischen Einmischung in der Ukraine, schon viele. Die damals handstreichartig eingenommene und annektierte Halbinsel Krim diente als Laboratorium der erzwungenen Eingliederung der örtlichen Bevölkerung in den russischen Staat. Zwar wurde die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft als freiwillig dargestellt. Aber wer sich dagegen wehrte und am ukrainischen Pass festhalten wollte, hatte alsbald mit Schikanen zu kämpfen, konnte sich seiner Rentenansprüche, seiner Arbeitsmöglichkeiten und seines Besitztums nicht mehr sicher sein und geriet in den Verdacht der Illoyalität.
In den Donbass-«Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, die bis 2022 auch aus russischer Sicht noch zur Ukraine gehörten, diente die erleichterte Einbürgerung in Russland dem Ziel, die ukrainische Staatsgewalt zu unterminieren. Just als Wolodimir Selenski nach einem Wahlkampf im Zeichen des Friedens 2019 zum Präsidenten gewählt worden war, bot Putin der Bevölkerung im Donbass den russischen Pass an. Er versetzte so dem damals noch wohlmeinenden, politisch unerfahrenen Selenski einen ersten schweren Dämpfer.
Ausländer im eigenen Land
Der umfassende Krieg ab Februar 2022 machte die Ukrainer endgültig zum potenziellen Feind in Russland und schuf neue Kategorien von ihnen. Nun gab es auch Flüchtlinge – einerseits solche aus den später annektierten Gebieten, anderseits solche aus ostukrainischen Regionen, die, wie etwa die Umgebung von Charkiw, zum Kriegsgebiet wurden, aber auch für den russischen Staat vorläufig ukrainisch blieben. Putins Erlass erschwert besonders den Aufenthalt für diese zweite Kategorie, wie die Moskauer Menschenrechtsaktivistin Swetlana Gannuschkina in einem Interview mit der «Nowaja Gaseta» erklärte. Der eigentlich rechtlich vorgesehene Flüchtlingsstatus wird in Russland nur ganz selten erteilt.
Im Unterschied dazu haben Flüchtlinge aus den russisch annektierten Regionen automatisch Anspruch auf die russische Staatsbürgerschaft und daher weniger Probleme, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Vor grosse Probleme sind ferner Ukrainerinnen und Ukrainer gestellt, die sich bis 2022 visumsfrei und mit Arbeitserlaubnis in Russland aufhielten. Selbst wenn sie eine Aufenthaltsbewilligung haben, kann jede Situation, in der sie sich ausweisen müssen, zur Bedrohung werden. Das kann schon der Kauf eines Zugbilletts sein, für den in Russland die Passnummer erforderlich ist.
Gannuschkina sagt, Arbeitgeber stellten nur ungern Ukrainer ein, weil sie argwöhnten, der Staat könnte ihnen plötzlich einen Strick daraus drehen. Die Hatz auf Tadschiken nach dem Terroranschlag in der Crocus City Hall bei Moskau vor einem Jahr, die auch alle möglichen Kontaktpersonen einbezog, bestätigt die Firmen in ihrer Vorsicht.
Völlig unberechenbar ist die Einreise nach Russland für Besitzer ukrainischer Papiere geworden. Ihnen stehen nur zwei Landgrenzübergänge sowie der Flughafen Scheremetjewo in Moskau zur Verfügung. Dort werden sie zum Teil tagelang aufgehalten und verhört. Nicht selten werden sie nicht ins Land gelassen, selbst wenn sie über gültige Aufenthaltsdokumente verfügen und Ehepartner und Kinder russische Bürger sind. Jüngst machten Berichte die Runde, dass immer öfter jahrelange Einreisesperren gegen Ukrainer verfügt werden.
Ansiedlung loyaler Russen
Die Abgabe der russischen Pässe an die Bewohner der annektierten Gebiete zementiert den Anspruch Russlands auf die eroberten Territorien. Es reicht aber nicht, Russe zu werden; die Behörden setzen die neu Eingebürgerten auch unter Druck, sich vom ukrainischen Pass zu trennen. Einher geht das mit der vollständigen Neuausrichtung auf russische Telefonie, russische Medien und russische Propaganda.
In den Schulen und mithilfe patriotischer Jugendorganisationen wird die Liebe zum neuen Vaterland eingetrichtert. Potenziell illoyale Bewohner und solche mit früheren Bezügen zum ukrainischen Staat sind besonderen Repressalien ausgesetzt. In einem langen Aufsatz für die amerikanische Zeitschrift «Foreign Affairs» schrieb die ukrainische Journalistin Natalia Humenjuk mit Blick auf eine Friedenslösung, das Akzeptieren einer dauerhaften Besetzung führe in den betroffenen Gebieten zu zusätzlicher Gewalt.
Die russische Regierung sorgt auch mittels Bevölkerungspolitik dafür, dass eine ihr loyal gesinnte Gesellschaft entsteht. In den durch Flucht, Vertreibung und Verwüstung entleerten Gegenden siedeln sich russische Beamte, Lehrer, Polizisten und ehemalige Militärangehörige an. Wer geflüchtet ist, droht sein Eigentum zu verlieren. In Mariupol, der von Russland unter enormen Verlusten unter der Zivilbevölkerung eroberten Hafen- und Industriestadt am Asowschen Meer, sollen wieder 300 000 Menschen leben, behauptet Putin. Das sind in der Mehrheit kaum Rückkehrer, sondern Neuansiedler. Der Ukrainer-Erlass von Ende März wirft so auch ein Schlaglicht auf die Brutalität, mit der Russland seine Kriegsbeute absichert.