Matthias Uhl hat sich jahrelang durch russische Aktenberge gegraben. Herausgekommen ist die mutmasslich erste umfassende Abhandlung der Geschichte des Militärgeheimdienstes GRU in der westlichen Welt. Ein Treffen mit dem Autor in Berlin.
Es war Ende Februar 2014, als auf der Krim «grüne Männchen» auftauchten. Sie trugen Uniformen der russischen Infanterie ohne Hoheitszeichen an den Ärmeln. Die «höflichen Leute», wie sie auch genannt wurden, entpuppten sich später zu grossen Teilen als Angehörige der 3. Speznas-Brigade des russischen Militärgeheimdienstes und besetzten Verwaltungen, Kasernen und Polizeistationen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hatte begonnen.
Zur gleichen Zeit sass ein heute 54 Jahre alter Wissenschafter aus Nordhausen in Thüringen in seinem Büro im Deutschen Historischen Institut in Moskau und dachte darüber nach, wann er endlich ein lang gehegtes Vorhaben angehen wolle. Ein Buch über den «Glawnoje raswedywatelnoje uprawlenije», kurz GRU, zu schreiben, das war sein Plan, entstanden aus der Überzeugung, dass ans Licht gehört, was in Deutschland und im Westen insgesamt kaum bekannt ist.
Nicht das KGB und seine Nachfolger SWR und FSB, so sieht es Uhl, seien die massgeblich treibende Kraft in der russischen Militärgeschichte. Es sei vielmehr der Geheimdienst GRU (zu Deutsch: «Hauptverwaltung für Aufklärung»), der in den 200 Jahren seiner Existenz oftmals massgeblich die Geschicke Russlands gesteuert habe. Während es über das KGB unzählige Literatur gibt, gibt es über den GRU so gut wie nichts.
Als im Februar 2014 der damals noch verdeckte russische Krieg in der Ukraine begann, machte sich Matthias Uhl ans Werk. Gut zehn Jahre später liegt es vor, und für den Autor ist kaum noch etwas so, wie es bis dahin war. Uhl zeichnet in seinem Buch «GRU» das Bild eines mächtigen und weltweit agierenden Geheimdienstimperiums, das skrupellos die Interessen einer politischen Führung durchsetze, die diese nach Gutdünken formuliere. Dabei werde dem GRU im Wesentlichen freie Hand bei der Wahl der hierfür nötigen Mittel gelassen.
Die Dienstkalender von Heinrich Himmler
Man könnte meinen, dass jemand, der so ein Buch schreibt, in Moskau nicht gut gelitten sein kann. Tatsächlich hat Matthias Uhl Russland vor kurzem nach zwanzig Jahren verlassen müssen und ist nach Helsinki umgezogen. Obwohl er sein Leben gerade neu ordnet, hat er Zeit für ein Treffen. Ein Kongress in Greifswald führt ihn nach Deutschland. Die NZZ verabredet sich mit ihm in einem Café in Berlin, wo er in grünem Hoodie, gelber Hose und Turnschuhen wohlgelaunt erscheint.
Wenn Uhl redet, dann lacht er viel, aber es ist vielleicht eher ein Lachen aus Unsicherheit. Der Historiker, geboren in der DDR, ist ein Mensch, der sich durch Aktenberge wühlt, aber nicht unbedingt die Öffentlichkeit sucht. Das war einmal anders. Nach den verdeckten Operationen der Russen im Donbass 2014 trat Uhl einige Jahre lang in Talkshows des russischen Staatsfernsehens auf und versuchte dort, eine Art vermittelnde Position einzunehmen. Das trug ihm mitunter auch Kritik wegen «zu russischer» Positionen ein.
Uhl sagt, er habe damals geglaubt, «dass Minsk II tatsächlich einen Lösungsansatz für den Donbass-Krieg bieten würde». Er habe eine Verhandlungslösung für möglich gehalten und sei davon ausgegangen, dass sie im Interesse aller Parteien sein sollte. «Damit lag ich, wie man heute weiss, falsch, aber mit der Position war ich damals nicht allein.» Mit der russischen Invasion im Februar 2022 habe er seine Auftritte im russischen Fernsehen beendet.
Als Uhl im Jahr 2005 nach Moskau ging, war das Deutsche Historische Institut noch eine private Stiftung. Seit 2010 gehört es zum staatlichen Verbund der Max-Weber-Stiftung, die deutsche geisteswissenschaftliche Institute im Ausland unterhält. Seine erste Arbeit beschäftigte sich mit den Dienstkalendern von Heinrich Himmler, die russische Soldaten erbeutet hatten.
Himmler war nach Hitler der mächtigste Mann in Nazi-Deutschland. Der «Reichsführer SS» hatte akribisch Kalender darüber führen lassen, mit wem er dienstlich und privat zusammentraf. Uhl konnte die Einträge im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums auswerten und 2020 mit vier weiteren Autoren die vielbeachtete Edition «Die Organisation des Terrors» vorlegen.
Dabei entstanden Kontakte, die er in den Folgejahren bei der Verfolgung seiner «intrinsischen Interessen» gut gebrauchen konnte. Sein bevorzugtes Themenfeld sei schon immer die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik gewesen, sagt Uhl. Er begann, die russischen Archive nach allem zu durchforsten, was er dazu finden konnte.
Das Archiv des GRU war verschlossen
Überall habe er meist freundliches Entgegenkommen erfahren, Zugänge seien ihm so gut wie nie verweigert worden. Hatte das vielleicht auch mit seinen Auftritten im russischen Fernsehen zu tun? Beim Archiv des Verteidigungsministeriums habe es vielleicht nicht geschadet, räumt Uhl ein.
Die Kontakte zu den anderen Archiven bestünden allerdings schon seit seinem ersten Aufenthalt in Moskau Mitte der 1990er Jahre. Nur in ein Archiv habe er nicht hineinkommen können: in das des GRU. Anfragen habe er gestellt, doch nie eine Antwort erhalten. Wie kann man dann ein Buch mit 750 Seiten über den GRU schreiben?
Die Antwort ist einfach. Uhl, der fliessend Russisch spricht, hat sich über Jahre durch Berge von Akten sowjetischer und russischer Regierungsbehörden gearbeitet. Dabei sei er immer wieder auf «Splitter» gestossen, die Informationen zum GRU enthielten, sagt er. Damit habe er sich auf die Spur des Militärgeheimdienstes gemacht. Was er fand, dürfte auch für deutsche und andere westliche Nachrichtendienste von hohem Interesse sein. Mit der Kenntnis der Geschichte des GRU versteht man auch das System Putin und das russische Machtgefüge besser.
Das Aufschlussreiche des Buches besteht daher weniger in einzelnen Ereignissen der Vergangenheit, in die der GRU verwickelt war und die Uhl beschreibt. Dazu zählt der Sturz des afghanischen Machthabers Hafizullah Amin an Weihnachten 1979 oder die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ebenso wie der gescheiterte Versuch, den übergelaufenen GRU-Oberst Sergei Skripal 2018 in Salisbury zu ermorden. Vieles davon kennt man, man brachte damit vielleicht nur nicht den GRU in Verbindung. Gleichwohl ist die Einordnung der Rolle des GRU in die historischen Abläufe mitunter sehr erhellend.
So schreibt Uhl, dass der GRU auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise 1962 ein sehr umfassendes Bild von den politischen und militärischen Massnahmen des Westens gehabt habe. Die Akten «gewährten Einblick in fast alle wichtigen Entscheidungen der Westmächte bis hinauf zu den höchsten Regierungsebenen». Dem damaligen Sowjetmachthaber Nikita Chruschtschow sei dadurch klar gewesen, «wie weit er mit seinem Bluff im Machtpoker mit den USA» habe gehen können. Sie hätten ihn bei Höhepunkten der Krise vor abenteuerlichen Entscheidungen zurückschrecken und die Lage realistisch bewerten lassen.
Hauptauftrag: Militärspionage in Europa
Diese Episode lässt den Schluss zu, dass das Wirken des GRU für den Westen nicht immer nur von Nachteil sein kann. Doch spätestens seit der Machtübernahme durch die Kommunisten 1917 besteht der Hauptauftrag des Geheimdienstes in der Militärspionage vor allem in Europa, später auch in den USA. Der Westen ist der Gegner, und anders als das «elitäre KGB und sein Nachfolger SWR», wie es Uhl ausdrückt, schreckt der GRU in diesem Kampf auch vor robusten Massnahmen nicht zurück. Der GRU sei mitunter der Geheimdienst fürs Grobe.
Dieser Befund Uhls kann nicht überraschen. Dem GRU gehören die Speznas an, Russlands Elitetruppe für verdeckte militärische Operationen. Ihnen widmet Uhl ein eigenes Kapitel, das ganz besonders dort interessant wird, wo es um die gegenwärtige Rolle der Speznas in der Ukraine geht. So sei es dem GRU und seinen Eliteeinheiten in den ersten Tagen der Invasion nicht gelungen, das mit viel Geld aufgebaute Agentennetz in der Ukraine zu aktivieren, um die russischen Truppen spürbar zu unterstützen.
Mehr noch: Zu Beginn der Invasion seien viele Angriffe der Speznas auf strategisch wichtige Objekte fehlgeschlagen. Später hätten sie, eingesetzt als gewöhnliche Infanterie, hohe Verluste erlitten. Geradezu eine Schmach aber, rekapituliert Uhl, sei es für den GRU, dass es seinem ukrainischen Pendant, dem HUR, immer wieder gelinge, spektakuläre Erfolge bei Angriffen im russischen Hinterland zu erzielen. Er selbst schaffe es derweil kaum, Schlüsselwaffensysteme der ukrainischen Streitkräfte wie etwa Kampfflugzeuge am Boden auszuschalten.
Interessant ist auch die Einschätzung Uhls zur Rolle des GRU im russischen Feldzug in Georgien im Jahr 2008. Er spricht von Fehlschlägen und beträchtlichen Schwächen des Geheimdienstes bei einer seiner Kernaufgaben, der taktischen Aufklärung. Immer wieder seien Aufklärungsdaten nur verzögert an die militärischen Einheiten an vorderster Front weitergegeben worden, schreibt Uhl. Der Dienst geriet in eine existenzielle Krise und musste um seine Zukunft bangen. Vor allem der politische Auslandsgeheimdienst SWR habe sich wesentliche Bereiche des GRU einverleiben wollen, so Uhl.
Der mysteriöse Tod des GRU-Chefs
Das verhinderte Wladimir Putin. Die Konkurrenz seiner vier Geheimdienste FSB (Inland), FSO (Sicherheit von Regierung und Präsident), SWR (politischer Auslandsdienst) und GRU untereinander diene ihm dazu, sein Machtsystem auszutarieren und zu erhalten. Uhl stützt diese These auf zahlreiche Beispiele, mit denen er den Umgang des Putin-Regimes mit Führungspersonal des GRU beschreibt.
Generalleutnant Igor Korobow etwa führte den Dienst in den Jahren des Syrien-Krieges zwischen 2016 und 2018. Nicht zuletzt dem GRU und den Einsätzen seiner Speznas war es zu verdanken, dass die Herrschaft von Präsident Bashar al-Asad und damit der russische Einfluss in der Region gesichert werden konnten. In jener Zeit, schreibt Uhl, habe der Geheimdienst zudem die Cyberattacken in Europa und den USA intensiviert. Ausserdem gebe es Hinweise, dass der GRU damals an einem gescheiterten Putschversuch in Montenegro beteiligt gewesen sei.
Korobows Amtszeit ist vor allem jedoch mit zwei Tiefschlägen für den GRU verbunden. Erst misslang der Mordanschlag auf Skripal am 4. März 2018. Dann nahm die niederländische Spionageabwehr im April 2018 vier Mitarbeiter des GRU fest, die in Den Haag versucht hatten, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen auszukundschaften. Dort wurden zu jener Zeit Proben des Giftes, das bei dem Anschlag auf Skripal verwendet worden war, geprüft. In ihrem Wagen fand die Polizei eine Spionageausrüstung und gefälschte Pässe.
Kurze Zeit später verbreitete der Kreml, Korobow sei plötzlich einem Krebsleiden erlegen. Doch an dieser Darstellung gab es sowohl im Westen als auch in Moskau Zweifel. Nach einem Gespräch mit Putin im September 2018, in dem ihn der Präsident abgekanzelt habe, sei dem GRU-Chef auf der Heimfahrt schlecht geworden. Westliche Geheimdienstexperten stellten daraufhin den Verdacht in den Raum, dass Korobow vergiftet worden sein könnte.
Der Torwart in Putins Eishockeyteam
Wer seine Geheimdienstaufgaben zur Zufriedenheit des Präsidenten erfüllt, kann es zugleich aber auch bis ins Zentrum der Macht schaffen. Als Beispiel beschreibt Uhl den Generaloberst Alexei Djumin. Djumin habe anfangs zur Leibgarde Putins gehört, sei Torwart von Putins Eishockeymannschaft und Speznas-Kommandeur zur Zeit der Krim-Besetzung gewesen. Ausserdem soll er die Operation des GRU geleitet haben, bei der am 22. Februar 2014 der abgesetzte Präsident Wiktor Janukowitsch aus der Ukraine nach Russland gebracht wurde.
Putin wollte den Geheimdienstgeneral zur Belohnung für seine Dienste allerdings nicht zum GRU-Chef machen. Zunächst hat er Djumin zum Gouverneur der wirtschaftlich bedeutenden Region Tula ernannt. Im Mai dieses Jahres schliesslich machte ihn Putin zu seinem Berater in rüstungswirtschaftlichen Fragen. Der GRU, so formuliert es Uhl, sei «Handlanger der Macht». Das Beispiel Djumin zeigt, dass er unter Putin längst auch Teil der Macht geworden ist.
Seit dem Mauerfall 1989 ist das Wissen über die russischen Geheimdienste in Deutschland verlorengegangen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz bauen erst mühsam wieder Expertise auf. Uhls Buch kann ihnen dabei helfen. «Gemeldet hat sich jedenfalls noch keiner», sagt Uhl zum Ende des Gesprächs in Berlin lächelnd. Der GRU sei inzwischen der Geheimdienst in Russland mit den meisten Mitarbeitern. «Die hatten in den letzten Jahren nahezu überall ihre Finger drin.»
Auf der «Liste der unerwünschten Organisationen»
Für Uhl und seine Familie beginnt nun in Helsinki ein neuer Lebensabschnitt. Er habe sich in Moskau bis zuletzt gebraucht gefühlt, sagt er, auch wenn klar gewesen sei, dass er überwacht werde. Offene Feindschaft habe er nie erlebt. Anfang des Jahres entschied das Aussenministerium, dass Wissenschafter «unfreundlicher Staaten» nicht mehr in russischen Archiven arbeiten dürften.
Für Uhl kam das einem Arbeitsverbot gleich. Das deutsche Auswärtige Amt habe aber gebeten, dass seine Kollegen und er vorerst in Moskau bleiben, «um die Brücken nicht abzureissen». Als das Deutsche Historische Institut im Sommer dann auf der «Liste der unerwünschten Organisationen» gelandet sei, sei klar gewesen, dass eine weitere Arbeit in Russland unmöglich sei.
Nach zwanzig Jahren in Moskau bleibt von Matthias Uhl ein Standardwerk über den russischen Militärgeheimdienst. Der GRU werde noch auf lange Zeit die Konfrontation Russlands mit dem Westen mitbestimmen, sagt er, effektiv, aggressiv und skrupellos. Im Februar soll das Buch im deutschen Spionagemuseum in Berlin präsentiert werden.
Matthias Uhl: GRU – Die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes von 1918 bis heute. Herder-Verlag, Freiburg, September 2024.