Das dürften schon viele erlebt haben: Ein Traum ermuntert uns, endlich etwas in Angriff zu nehmen, das wir schon lange tun wollten. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».
Schon lange hatte ich mir vorgenommen, sie endlich einmal anzurufen: eine ehemals gute Freundin, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Während der Studentenzeit hatten wir uns eine Wohnung geteilt, danach allerdings zunehmend aus den Augen verloren. Jedes Mal, wenn ich zum Handy greifen und sie anrufen wollte, kam jedoch etwas dazwischen.
Dass es nie die richtige Gelegenheit zu sein schien, hatte freilich tiefergehende Gründe. Eine vormals vertraute Person, mit der man lange Zeit keinen Kontakt mehr hatte, kann man nicht einfach anrufen und fragen, wie’s denn so gehe. Zudem ist ungewiss, wie sehr sie sich verändert hat und ob es nicht besser wäre, sich mit den guten Erinnerungen an die frühere Freundschaft zu begnügen.
Vom Alltag in Beschlag genommen, hatte ich mein Vorhaben bereits wieder ruhen lassen, als ein Traum mir dieses kürzlich in aller Deutlichkeit ins Bewusstsein rief. Darin ereignete sich, was ich so lange vor mir hergeschoben, aber nie verwirklicht hatte: In einem festlich geschmückten Raum begegnete ich meiner damaligen Studienkollegin und die Freude über das Wiedersehen war auf beiden Seiten gross. Das virtuelle Erlebnis hinterliess einen derart starken Eindruck, dass ich mir tags darauf einen Ruck gab und meine Freundin endlich kontaktierte. Die erfreute Antwort folgte auf dem Fuss.
Über die Bedeutung von Träumen ist schon viel spekuliert worden. Welche Hypothese der Wahrheit am nächsten kommt, ist indes nach wie vor ungewiss. Laut dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, dienen Träume unter anderem dazu, Wünsche zu erfüllen. In meinem Fall könnte dies durchaus zutreffen. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Annahme des Psychiaters C. G. Jung, wonach Träume eine Art Handlungsanweisung des Unbewussten sind.
Längst nicht immer sind die nächtlichen Erlebniswelten allerdings so einfach zu lesen wie die hier beschriebene. Etliche bestehen vielmehr aus bizarren Situationen, irrealen Schauplätzen oder auch Begegnungen mit skurrilen bis furchterregenden Individuen. Was sie im Einzelfall bedeuten, ist dabei oft genauso rätselhaft wie das Phänomen Traum an sich. So lässt sich bis heute nicht mit Sicherheit sagen, weshalb wir überhaupt träumen.
Da das Gehirn dabei viel Energie verbraucht – das gilt insbesondere für die durch lebhafte Träume gekennzeichnete REM-Phase –, ist davon auszugehen, dass die nächtlichen Halluzinationen einen wichtigen Zweck erfüllen. Sonst wären sie im Lauf der Evolution längst aussortiert worden.
Träume besitzen wahrscheinlich mehrere Funktionen, wie wissenschaftliche Untersuchungen nahelegen. Laut diesen fördern sie unter anderem die Kreativität, besänftigen Emotionen und Gemütsregungen, stärken das Erinnerungsvermögen und sorgen zugleich dafür, dass wir – vermutlich wenig genutzte – Gedächtnisinhalte vergessen.
Laut dem amerikanischen Neurowissenschafter Erik Hoel von der Tufts University in Madison könnten Träume darüber hinaus eine Art Experimentierfeld sein, um uns auf unvorhergesehene Ereignisse vorzubereiten. Ähnlich wie künstliche Intelligenz müsse das menschliche Gehirn beständig mit Ungewohntem konfrontiert werden. Denn ohne ein solches Training bestehe die Gefahr, argumentiert Hoel, dass es nur mit dem bekannten Datensatz zurechtkomme und neue, noch nie gesehene Informationen falsch einordne.
In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.
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