Der Direktor der Zürcher Handelskammer meint warnend, dass zu hohe Steuern und eine überbordende Bürokratie zum ernsthaften Problem würden.
Herr Tschanz, Sie sind seit Anfang Jahr Direktor der Zürcher Handelskammer. Angesichts der Stimmung, die der Wirtschaft aus vielen Kreisen der Bevölkerung entgegenschlägt, hört sich das nicht unbedingt nach einem erstrebenswerten Mandat an.
Im Gegenteil, es ist eine hochspannende Zeit, um diese Rolle in einem traditionsreichen Verband mit über 1100 Unternehmen aus allen Branchen übernehmen zu können. Wir feierten letztes Jahr unser 150-Jahr-Jubiläum, das zeugt von der breiten Abstützung der Handelskammer in der Zürcher Wirtschaft.
Tradition ist schön und gut, aber selbst in Zürich, dem Wirtschaftsherz der Schweiz, ist der freie Markt auf dem Rückzug. Angesagt sind staatliche Interventionen wie ein kommunaler Mindestlohn oder, auf nationaler Ebene, der Ausbau der AHV.
Nun, der Mindestlohn ist noch nicht eingeführt, dazu läuft nach wie vor ein Rechtsstreit. Aber ja, in der Stadt Zürich wurde er an der Urne angenommen, und auch die 13. AHV-Rente fand bis weit in das bürgerliche Lager Zustimmung, während eine ähnliche Vorlage vor zehn Jahren noch hochkant abgelehnt worden war. Das muss uns zu denken geben.
Woher kommt dieser Stimmungswandel?
Das ist schwierig zu verorten. Ein wichtiger Aspekt dürfte wohl das Gerechtigkeitsempfinden wegen der Wirtschaftslage mit der Teuerung und den steigenden Krankenkassenprämien sein. Viele Menschen dürften sich gesagt haben, wenn der Staat die Mittel hat, um zahlreiche Unternehmen während der Pandemie zu unterstützen oder um Grossbanken zu retten, dann sollte auch eine 13. AHV-Rente finanzierbar sein.
Welche Rolle sollte in diesem Umfeld die Handelskammer spielen?
Wir müssen besser aufzeigen, was die Wirtschaft für die Gesellschaft leistet. Unser Wohlstand und der ausgebaute Sozialstaat sind nicht vom Himmel gefallen. Jeder Franken muss hart erarbeitet werden. Das passiert in den Unternehmen, die hier investieren, Arbeitsplätze schaffen und Steuern bezahlen.
Vom Stellvertreter zum Direktor
zge. Raphaël Tschanz (*1974) hat an der Universität Zürich Politikwissenschaft und Betriebswirtschaft studiert. Per Ende 2022 wurde er zum stellvertretenden Direktor und Leiter Wirtschaftspolitik der Zürcher Handelskammer ernannt, per Anfang 2024 zu ihrem Direktor. Davor war er stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Switzerland Innovation. Von 2014 bis 2021 sass Tschanz für die FDP im Gemeinderat der Stadt Zürich.
Ist dieses Bewusstsein in der rot-grün regierten Stadt Zürich vorhanden?
Sie hat ein Wohlstandsproblem, es geht ihr zu gut. Jedes Jahr steigen die Steuereinnahmen, die aber direkt wieder vom städtischen Haushalt absorbiert werden. An die Steuerzahler fliesst nichts zurück. Diese Politik führt mittelfristig in eine Sackgasse. Aber solange die Steuereinnahmen sprudeln, solange mehr Menschen nach Zürich ziehen und solange auch die Unternehmen hier bleiben, kann man sich eine solche Politik offenbar leisten.
Aus linker Sicht sind die Unternehmen überspitzt formuliert jene, welche die Arbeiter ausbeuten, die Umwelt zerstören und den Chefs dafür auch noch Millionen bezahlen.
Diese extreme Haltung trifft vielleicht auf gewisse Exponenten der Juso zu. Im persönlichen Austausch begegnen mir viele Linke, bei denen das Bewusstsein für die Bedeutung der Wirtschaft für die Finanzierung des Sozialstaats durchaus vorhanden ist.
Der Kanton Zürich liegt bei den Unternehmenssteuern im schweizweiten Vergleich auf dem letzten Platz. Wieso kommen und bleiben die Firmen trotzdem?
Gewisse Unternehmen sind schon sehr lange hier, weil Zürich ein internationales Wirtschaftszentrum und ein führender Forschungsstandort ist. Zürich bietet hervorragende Zentrumsleistungen, eine hohe Lebensqualität, es gibt einen breit diversifizierten Arbeitsmarkt, und der Flughafen ist nah. Das sind bedeutende Standortfaktoren.
Und das alles überwiegt eine hohe Steuerbelastung?
Offenbar, aber nicht überall. Das sehen wir beim Wanderungssaldo von Unternehmen, dieser ist seit mehreren Jahren negativ. Es ziehen also mehr Firmen aus dem Kanton weg als umgekehrt. Andere behalten zwar ihren Sitz hier, verlegen aber Einheiten in andere Kantone. So geht schleichend Steuersubstrat verloren.
Die Greater Zurich Area, also die Standortmarketing-Organisation des Wirtschaftsraums Zürich, hat letztes Jahr so wenige Ansiedlungen wie seit Covid nicht mehr vermeldet. Ist das eine kurze Schwächephase, oder ist das angesichts des Fachkräftemangels vielleicht sogar eine erwünschte Entwicklung?
Das ist ein Argument, das ich auch aus Regierungskreisen höre: «Was soll Zürich denn noch besser machen? Wir sind ja schon so attraktiv, dass wir weder genügend Fachkräfte noch Wohnungen haben.»
Sie teilen diese Sicht nicht?
Nein, absolut nicht. Aber der Rückgang bei den Ansiedlungen wird überbewertet. Die Zahl der Zuzüge sagt für sich allein nicht viel aus, in der Regel sind das ja kleine Unternehmen mit wenigen Leuten. Entscheidend ist, welches Potenzial in ihnen steckt. Auch Google kam anfänglich nur mit einer Handvoll Personen nach Zürich, heute arbeiten fast 5000 Angestellte für das Unternehmen.
Google baut jetzt allerdings schleichend wieder ab, bereits angemietete Bürogebäude werden nicht bezogen.
Ja, und das ist ein Warnsignal.
Muss Zürich zum Tiefsteuerkanton werden, um weiterhin attraktiv zu bleiben?
Das wäre nicht realistisch. Aus unserer Sicht muss der Kanton es aber wenigstens ins Mittelfeld schaffen. Potenzial ist offensichtlich vorhanden, wie die Überschüsse der letzten Jahre gezeigt haben.
Sind die Bedingungen in der Schweiz wirklich so schlimm, wie es gerade bürgerliche Politiker gerne darstellen? Immerhin sind mehrere sehr reiche Norweger zu uns gezogen, einige auch in den Kanton Zürich. Ihnen scheint das Steuerklima zu behagen.
Das ist richtig, aber entscheidend ist, was mit den Unternehmen passiert. Wenn ihnen nicht mehr wohl ist, dann sind sie weg, und das bedeutet bei Firmen wie Google, dass mehrere tausend Arbeitsplätze verschwinden. Das wäre ein herber Schlag für Zürich und hätte eine fatale Signalwirkung.
Auf kantonaler Ebene sind die politischen Gewichte anders verteilt als in der Stadt. Er ist mehrheitlich bürgerlich regiert. Und doch tut auch der Kanton sich schwer mit Steuersenkungen, während der Staatshaushalt wächst und auch die Zahl der Staatsangestellten stark zugenommen hat. Macht Ihnen das Bauchweh?
Für uns ist zentral, dass die kantonale Verwaltung nicht stärker wachsen darf als die Bevölkerung; im Kantonsparlament wurde dieser Punkt ja auch eingebracht. Bei den Steuern sehen wir, dass die Umsetzung des zweiten Teils der Steuervorlage 17 verknüpft wurde mit einer Erhöhung der Dividendenteilbesteuerung. Auf der einen Seite werden also die Steuern gesenkt, auf der anderen aber erhöht. Das ist nicht unternehmensfreundlich.
Weil es speziell Unternehmer trifft, welche massgeblich an ihrer eigenen Firma beteiligt sind?
Ja, und das ist gerade angesichts des bereits sehr hohen Zürcher Steuerniveaus nicht gut. Der Kanton Zürich besteuert seine Unternehmen sogar stärker als der Kanton Bern, das muss man sich einmal vorstellen!
Was kann Zürich tun, um für Unternehmen attraktiver zu werden?
Im Gespräch mit Mitgliedern höre ich, dass die Bürokratie ein grosses Problem ist. Der administrative Aufwand ist gigantisch, gerade bei Bauvorhaben. Bis eine Baubewilligung vorliegt, vergeht manchmal mehr als ein Jahr. Ein anderes Problem ist der Rückstand in der Digitalisierung der Verwaltung – der Kanton hat das aber erkannt. Für die Firmen relevant sind weiter auch die hohen Arbeitskosten und die Verfügbarkeit von Wohnraum.
Sollte der Staat stärker in den Wohnungsmarkt eingreifen?
Da bin ich skeptisch. In der Stadt Zürich zeigt sich, dass staatliche Interventionen nicht den gewünschten Erfolg bringen. Das Bauen muss im Gegenteil erleichtert werden, um die Nachfrage nach Wohnraum zu decken.
Der Kanton ist über die Immigration stark gewachsen – sollte die Zuwanderung begrenzt werden?
Es gibt offenbar ein Unbehagen in der Bevölkerung. Gleichzeitig hat unser Land stark von der Zuwanderung profitiert, die Wirtschaft ist nicht nur gesamthaft, sondern auch pro Kopf gewachsen. Mit Blick auf die anstehenden Verhandlungen mit der EU sollte es ein Thema sein, eine Schutzklausel einzuführen, für den Fall, dass das Tempo der Zuwanderung zu hoch sein sollte. Darüber wird am Schluss das Volk entscheiden müssen.
Die Wirtschaft möchte aber grundsätzlich freie Bahn. Sie braucht die Fachangestellten, und sie ist froh um alle, die kommen.
Das stimmt zwar, aber die Zuwanderung ist nur eine Möglichkeit, die Lücken zu füllen. Die Wirtschaft will auch ältere Mitarbeitende länger im Berufsleben halten und setzt sich für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein, damit gerade Frauen stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Immer mehr unserer Mitglieder haben entsprechende Programme.
Wie zufrieden sind Sie mit der Kantonsregierung? Sollen die älteren Mitglieder, vier der sieben sind 65 Jahre oder älter, langsam den Weg freimachen für frische Kräfte?
Ich masse mir nicht an, den Regierungsräten dazu Vorgaben zu machen. Wir werden wohl alle über das Pensionsalter hinaus arbeiten müssen. (Lacht.) Aber es ist klar, dass es Wechsel geben wird, das zeigt nur schon ein Blick auf die Geburtsdaten der gegenwärtigen Regierungsmitglieder. Zentral für uns ist, dass die bürgerliche Mehrheit erhalten bleibt.
Selbstverständlich ist das nicht, wie die vergeblichen Anläufe der FDP, bei den letzten und vorletzten Regierungsratswahlen auf zwei Sitze zu kommen, zeigten.
Das ist so, und das bedauere auch ich natürlich. Die bürgerlichen Parteien müssen jetzt geeignete Kandidaten aufbauen, um ihre Mehrheit zu sichern.
Stösst die Handelskammer bei der Politik auf Gehör?
Wir wollen den Dialog gerade mit den kantonalen Organen intensivieren. Dies ist besonders für unsere Schwerpunktthemen wie die Demografie, die Steuern, die Energieversorgung und den Arbeitsmarkt wichtig. Hier wollen wir an den richtigen Stellschrauben drehen – sei es im Austausch mit der Regierung oder der Verwaltung oder über Vorstösse.
Die Schweizer Politik lebt von der Konkordanz, also von der Zusammenarbeit über die politischen Grenzen hinweg. Sucht die Handelskammer auch Kontakte jenseits von FDP und SVP, etwa mit der GLP oder mit der SP und den Grünen?
Wir arbeiten mit allen bürgerlichen Parteien gut zusammen, auch mit der GLP. Dies ist im kantonalen Parlament auch notwendig, um eine Mehrheit zu erhalten. Mit den linken Parteien ist es schwieriger, aber auch hier suchen wir den Austausch.
Verglichen mit anderen Verbänden tritt die Handelskammer sehr brav auf. Warum getrauen Sie sich nicht?
Wir bringen unsere Kritik an, aber das muss nicht immer öffentlich sein. Es gibt andere Wege.
Ein Weg über die Öffentlichkeit könnte auch den Druck erhöhen.
Am Schluss braucht es eine politische Mehrheit, es nützt nichts, wenn wir medienwirksam Forderungen stellen, die sowieso illusorisch sind und keine Mehrheit finden.
Gewerkschaften oder Umweltorganisationen, aber auch Parteien wie die SVP sind sehr viel schmerzfreier. Sie stellen Forderungen in den Raum, von denen sie genau wissen, dass sie nicht mehrheitsfähig sind, aber für viel Wirbel sorgen. Ihre Stimmen werden vernommen, auch medial.
Wir könnten sicher noch pointierter auftreten und sichtbarer werden, das ist auch unser Ziel. Wir werden aber nie ein Verband sein, der poltert und lärmt. Wir sind an tragfähigen Lösungen interessiert.