Ein Raserunfall auf der A 4 bei Humlikon im November 2017 forderte ein Todesopfer. Beim Berufungsprozess steht die Frage im Zentrum, ob es eine eventualvorsätzliche oder eine fahrlässige Tötung war.
Die verhängnisvolle Unfallnacht ist schon über sechseinhalb Jahre her. Der objektive Sachverhalt ist völlig unbestritten: Am 4. November 2017 war ein damals 19-jähriger Schweizer in seinem Fiat Bravo mit mindestens 1,14 Gewichtspromille Alkohol intus auf der A 4 in Richtung Schaffhausen unterwegs. In seinem Auto fuhren ein Kollege und zwei Frauen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren mit. Zuvor hatten sie in Zürich im «Club Q» zusammen gefeiert.
Um etwa 5 Uhr morgens überholte der Lenker bei Humlikon einen korrekt mit 80 km/h fahrenden Sattelschlepper rechts über den Rastplatz Kreuzstrasse. An dieser Stelle ist die A 4 in Richtung Schaffhausen einspurig geführt. Wegen des zu hohen Tempos geriet der Fiat in der Kurve nach dem Rastplatz in ein unkontrolliertes Schleudern. Er kollidierte mit dem Sattelzug-Anhänger und prallte danach auf der Gegenfahrbahn in einen korrekt entgegenkommenden VW Polo.
Der 21-jährige Mitfahrer rechts auf der Rückbank im Fiat erlag vier Tage später seinen Verletzungen im Spital. Vier weitere Beteiligte wurden verletzt. Eine Mitfahrerin, die der Beschuldigte erst in jener Nacht kennengelernt hatte, erlitt unter anderem schwere Armverletzungen und musste sich von einer Rechtshänderin zur Linkshänderin trainieren und beruflich umorientieren.
Vorsätzliche oder fahrlässige Tötung?
Das Bezirksgericht Andelfingen verurteilte den Beschuldigten, der stets in Freiheit blieb, im Juli 2021 zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 2 Monaten. Damals arbeitete er noch als Lieferwagen-Chauffeur.
Entgegen der Anklage sah das Gericht keinen Eventualvorsatz, sondern nur eine bewusste Fahrlässigkeit. Der Unfallverursacher habe zwar trotz erkannter Lebensgefahr gehandelt, aber darauf vertraut, dass sich die Lebensgefahr nicht realisieren lasse, hatte der Gerichtsvorsitzende begründet.
Das Gericht hatte den jungen Mann der mehrfachen Gefährdung des Lebens, der fahrlässigen Tötung, der fahrlässigen schweren Körperverletzung, der qualifizierten groben Verletzung von Verkehrsregeln und des vorsätzlichen Fahrens in fahrunfähigem Zustand schuldig gesprochen.
Die Staatsanwältin hatte 6,5 Jahre Freiheitsstrafe wegen eventualvorsätzlicher Tötung und weiterer Straftatbestände verlangt. Der Verteidiger hatte auf fahrlässige Tötung, aber auch auf Straffreiheit plädiert, weil der Beschuldigte die Konsequenzen seines Handelns aufgrund seiner angeblich eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten nicht habe abschätzen können und mit den Unfallfolgen genug bestraft sei.
Nun treffen sich alle Parteien vor Obergericht wieder. Sowohl der Unfallverursacher als auch die Staatsanwaltschaft sind in Berufung gegangen. Der Beschuldigte ist mittlerweile 25 Jahre alt und arbeitet als Gerüstbauer. In seiner Freizeit spielt er Eishockey. Er hat einen zweijährigen Sohn, lebt getrennt von der Kindsmutter und wohnt wieder bei seinen Eltern. Abgeben müsse er dafür den Eltern nichts, sagt er.
Seine Eltern hätten auch für die Unfallfolgen bezahlt. Wie viel sie an Schadenersatz oder Genugtuung an wen überwiesen und was allenfalls Versicherungen übernommen haben, weiss er aber nicht. «Ich habe mich nicht damit befasst», erklärt er. Psychisch gehe es ihm relativ gut, eine psychologische Beratung habe er letztes Jahr beendet. Familie und Freunde würden ihn unterstützen, das reiche.
«Wie russisches Roulette»
Auf die Frage, was er mit der Berufung erreichen wolle, erklärt er: «Ich habe schon eine genug grosse Strafe.» Diese werde ihm sein ganzes Leben lang zu schaffen machen. Er habe seinen besten Freund verloren, «der mir sehr am Herzen gelegen hat». Und wie vor der Vorinstanz fängt der Beschuldigte auch wieder an zu weinen.
Zum Unfallhergang, wieso er sich alkoholisiert hinter das Lenkrad gesetzt hatte, wie er sich bei der Fahrt fühlte, was er sich vor dem Unfall überlegte, macht er wie vor der Vorinstanz auf Anraten seines Verteidigers keine Aussagen. Er erklärt aber, die Fahrt sei der grösste Fehler seines Lebens gewesen. Er entschuldige sich «von ganzem Herzen» bei allen damals Beteiligten. Er werde noch sein ganzes Leben mit dem zu kämpfen haben, was passiert sei.
Der Sonderstaatsanwalt, der den Fall übernommen hat, hält vor Obergericht fest, er könne nicht nachvollziehen, wie die Vorinstanz nur auf eine fahrlässige Tötung gekommen sei. Als er die Akten gelesen habe, habe er spontan an russisches Roulette gedacht: Ein übermüdeter und alkoholisierter Junglenker habe sich für eine halsbrecherische und lebensmüde Fahrt über einen Rastplatz entschieden.
«Wie viel krasser muss denn das Verhalten noch sein, um als eventualvorsätzlich zu gelten?», fragt er, «wenn man die Unfallfotos der Autos anschaut, staunt man, dass überhaupt jemand überlebt hat.» Der Staatsanwalt verlangt neu eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren.
Antrag auf Straflosigkeit macht Staatsanwalt «fassungslos»
Der Verteidiger beharrt in seinem Hauptantrag auf Straflosigkeit für den 25-Jährigen. Dieser sei der unbewussten fahrlässigen Tötung und der unbewussten fahrlässigen Körperverletzung schuldig zu sprechen. Lediglich für das Fahren in fahrunfähigem Zustand seien ihm eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 120 Franken und 700 Franken Busse aufzuerlegen.
Der Rechtsanwalt wiederholt seine Argumente von der Vorinstanz, zeichnet detailliert die Kindheit und das Vorleben des Beschuldigten mit heftigen schulischen Problemen und «unglaublichen kognitiven Schwierigkeiten» seines Mandanten nach, der auch mehrfach durch die theoretische Führerprüfung gerasselt war.
Durch die Einschränkung seiner kognitiven Fähigkeiten habe sein Mandant bei der Unfallfahrt das Risiko nicht vorausgesehen. Mit dem Tod seines besten Freundes sei der Beschuldigte bereits lebenslänglich bestraft. Er sei in seiner Persönlichkeit derart schwer getroffen, dass eine Strafe durch das Obergericht unangemessen wäre.
«Ich kann es nicht fassen!», kommentiert der Staatsanwalt diesen Antrag. Der Beschuldigte sei der Täter, «der Verursacher unsäglichen Leides». Es sei unerklärlich, dass er hier zum Opfer hochstilisiert werde.
Der Vertreter einer Privatklägerin betont, dass der Beschuldigte schon lange im Voraus geplant habe, alkoholisiert Auto zu fahren, und als Eishockeyspieler ebenfalls sehr schnelle und sehr viele Entscheidungen treffen müsse, wozu er ja intellektuell auch nicht limitiert sei.
Am Folgetag des Unfalls habe er ein Eishockeyspiel gehabt, das sei sein Motiv gewesen, unbedingt noch nach Hause zu fahren, obwohl er alkoholisiert gewesen sei, sagt der Anwalt. Er glaube zwar, dass der Beschuldigte seine Tat bereue, vor allem bereue dieser aber die Auswirkungen auf sein eigenes Leben. Es habe ihn nicht interessiert, was der Unfall mit anderen Leuten gemacht habe.
Das Obergericht hat noch kein Urteil gefällt. Die Parteien haben sich damit einverstanden erklärt, dass es in den nächsten Tagen nur schriftlich, unbegründet, im Dispositiv mitgeteilt wird.
Urteil SB230291 vom 22. 3. 2024, noch nicht rechtskräftig.