Bis Samstag war der Belgier Teil der EU-Machtzentrale. Deshalb schlugen die Ermittler erst jetzt zu. Offenbar trickste er mit Lottoscheinen – ein bekanntes Muster.
Es könnte einer der spektakulärsten Abstürze der jüngeren EU-Politik werden: Bis Samstag war Didier Reynders noch Justizkommissar – und nun läuft gegen ihn eine Strafuntersuchung wegen eines möglichen Korruptionsdelikts. Wie «Le Soir» und die Plattform «Follow the Money» berichten, fanden am Dienstag in zwei Liegenschaften von Reynders Hausdurchsuchungen statt. Bis am späten Abend sei der 66-Jährige verhört worden. Die Generalstaatsanwaltschaft von Brüssel bestätigt auf Anfrage, dass gegen ihn Ermittlungen im Gang seien, äussert sich darüber hinaus aber nicht.
Hintergrund der Razzien sind offenbar dubiose Geldspiel-Praktiken: Die belgischen Behörden verdächtigen Reynders, mit Lottoscheinen Schwarzgeld gewaschen zu haben. Gemäss den Recherchen soll er über mehrere Jahre und teilweise in bar sogenannte E-Tickets gekauft haben – also Gutscheine mit einem Wert zwischen 1 und 100 Euro, die auf ein Konto der nationalen Lotteriegesellschaft überwiesen werden können. Von diesem Konto aus soll Reynders an Glücksspielen teilgenommen und die Erträge daraus auf ein Privatkonto überwiesen haben.
Gewinnchance von 78 Prozent
«Gewinnspiele werden regelmässig dafür verwendet, Schwarzgeld zu waschen», schreibt die belgische Lotteriekommission auf ihrer Seite. Der Trick ist simpel: Man sucht sich ein Spiel aus, das eine verhältnismässig hohe Gewinnchance hat – also etwa Rubbellose. Damit hat man zwar keine Aussichten auf einen Millionengewinn, dafür ist die durchschnittliche Rendite deutlich höher als bei anderen Glücksspielen. Beim 10-Euro-Los beträgt sie immerhin 78 Prozent des eingesetzten Betrags, wie die Tageszeitung «Het Laatste Nieuws» berechnet hat.
Die Lotteriegesellschaften kennen das illegale Vorgehen natürlich und sind verpflichtet, mit ihren Compliance-Abteilungen potenziellen Betrugsfällen nachzugehen. Wenn die Einsätze in kleinere Beträge portioniert werden, ist die Aufdeckung aber schwierig.
Sollte Reynders auf diesem Weg tatsächlich «erhebliche Beträge» eingesetzt haben, wie kolportiert wird, ist die nächste Frage, woher das viele Bargeld kam. Darum dreht sich nun die angelaufene Strafuntersuchung. In der Vergangenheit ist der Wallone schon verschiedentlich der Korruption bezichtigt worden, aber es konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden. In Belgien wird Reynders, der verschiedene politische Affären schadlos überstanden hat, zuweilen «Teflon-Reynders» genannt.
Er darf nicht verhaftet werden
Dass die Hausdurchsuchungen und Einvernahmen am Dienstag stattfanden, ist kein Zufall. Gemäss «Le Soir» haben die Beamten mehrere Wochen oder gar Monate gewartet, bis sie die Falle zuschnappen liessen. Denn wäre Reynders noch als Kommissar im Amt gewesen, hätte die belgische Polizei die Zustimmung der EU-Kommission einholen müssen – was die Geheimhaltung der Ermittlungen erschwert hätte.
Weil ein Teil der verdächtigen Vorfälle noch auf Reynders’ Amtszeit als belgischer Minister zurückgeht, geniesst der frühere Vorsitzende der liberalen Partei (MR) dennoch eine teilweise Immunität. So ist es den Strafbehörden vorderhand nicht erlaubt, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen oder vor Gericht zu bringen. Dafür ist zuerst ein Beschluss des belgischen Parlaments vonnöten.
Reynders ist im dreisprachigen Staat seit Jahrzehnten ein politisches Schwergewicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass er dabei verschiedene Funktionen innehatte, bei denen es um den Kampf gegen Korruption ging. Zwanzig Jahre lang gehörte er der nationalen Regierung an, davon mehr als die Hälfte als Finanzminister. Die letzten fünf Jahre amtete er als EU-Kommissar für Justiz und Rechtsstaatlichkeit.
Was wussten Belgiens Regierung und die EU-Kommission?
Als Abschluss seiner Karriere hätte sich der Berufspolitiker gerne nochmals einen neuen Hut aufgesetzt. Er kandidierte fürs Amt des Europarat-Generalsekretärs – und unterlag im Juni alt Bundesrat Alain Berset.
Reynders seinerseits interpretierte seine Niederlage gegen Berset offenbar nicht als Zeichen dafür, dass seine Zeit abgelaufen sein könnte: Im Sinne eines Plans B wollte er unbedingt EU-Kommissar bleiben – und reagierte enttäuscht, als Belgiens Regierung an seiner Stelle Hadja Lahbib nominierte.
Tat das die Regierung, weil sie in Kenntnis der strafrechtlichen Untersuchungen gegen Reynders gesetzt worden ist? Hatte allenfalls gar Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Wind von der Sache bekommen und wollte sich kein Klumpenrisiko ins Kabinett holen? Die Sprecher der EU-Kommission beteuerten am Mittwochmittag wiederholt, nichts von den Ermittlungen gewusst zu haben. Selbstverständlich werde man aber vollumfänglich mit den belgischen Behörden kooperieren, falls eine entsprechende Anfrage eintreffen sollte.