Nach dem Wirtschaftswende-Papier von Finanzminister Christian Lindner wollen die Sozialdemokraten vorgezogene Neuwahlen nicht mehr ausschliessen. Derweil sieht CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz grosse Schnittmengen zwischen Union und FDP.
Der deutschen Regierung läute das Totenglöckchen. Es ist eine etwas drastische Beschreibung, die der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder am Samstag für die neuerlichen Vorgänge in der rot-grün-gelben Koalition wählte. Aber dass sich Deutschland in einer veritablen Regierungskrise befindet, dürfte kaum zu leugnen sein.
Seinen Ursprung hat der schwierige Zustand der Regierung von Olaf Scholz in dem seit Monaten schwelenden Streit um den Haushalt für das kommende Jahr. Bisher konnten sich Sozialdemokraten, Grüne und Liberale nicht darauf einigen, was im kommenden Jahr wofür ausgegeben werden soll. Mitte des Monats muss der Etat aber stehen, um ihn bis zum Jahresende durch den Bundestag zu verabschieden und damit einen gesetzeskonformen Haushalt für 2025 zu haben.
Am Freitag sorgte nun Finanzminister Christian Lindner mit einem politischen Konzept für eine Wende in der kriselnden deutschen Wirtschaft für den möglichen Todesstoss für die Regierung. Der Vorsitzende der FDP skizziert darin, wie er die grüne Klimapolitik und die Sozialpolitik der SPD weitgehend abräumen will, um Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Für die beiden Partner in der Regierung kommt das einem Affront und einer Provokation gleich.
Die Frage steht im Raum, was Lindner damit bezweckt. Will er, dass ihn Scholz rauswirft, damit die Liberalen nicht als die Totengräber der «Fortschrittskoalition» gelten? Oder hofft er, dass die Liberalen mit Blick auf die Bundestagswahlen durch ihre wirtschaftspolitische Kompetenz punkten können?
Grüne sollen Lindner-Papier geleakt haben
Lindner liess noch am Freitag, als das Papier durchgesickert war, versichern, dass er es nicht öffentlich gemacht habe. Er klagte über eine Indiskretion; er habe das Papier regierungsintern zur Diskussion stellen wollen. Angeblich soll es zunächst nur Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen vorgelegen haben. Verschiedene deutsche Medien berichteten von dem Verdacht in der FDP, dass Habeck oder die Grünen das Papier geleakt hätten.
Auffällig ist, dass sich die Grünen am Wochenende mit Reaktionen auf den Inhalt des Lindner-Papiers zurückhielten. Sie boten an, dass man darüber diskutieren könne, wie Deutschlands Wirtschaft aus der Krise zu holen ist. Auch aus der SPD kamen zunächst moderate Töne. Samstagabend aber meldete sich dann die Parteivorsitzende Saskia Esken zu Wort. Zunächst erklärte sie, Lindners Konzept werde von den Sozialdemokraten durch die Bank abgelehnt. Das war schon einmal eine klare Absage.
Am späten Abend aber wurden Äusserungen von Esken bekannt, die darauf hindeuten lassen, dass sich die SPD möglicherweise auf mehr vorbereitet, als es in dem seit Monaten üblichen Streitgeplänkel mit der FDP sonst üblich war. «Niemand will im Augenblick eine Prognose wagen, wann genau die nächste Bundestagswahl stattfindet», sagte Esken. Und weiter: «In der Koalition, das ist nicht von der Hand zu weisen, brennt derzeit die Hütte.»
Diese Aussage ist bemerkenswert. Denn bisher wirkte die SPD so, als habe sie kein Interesse an einem vorzeitigen Ende der Koalition und an vorgezogenen Neuwahlen. Die Umfragewerte für die Partei sind schlecht; sie liegt derzeit bei gut 16 Prozent und damit noch hinter der AfD. Kanzler Scholz und seine Partei sollen, so heisst es in Berlin, darauf hoffen, die verbleibenden zehn Monate bis zur Wahl im September nächsten Jahres für eine Trendumkehr nutzen zu können.
Ein Angebot Lindners an die Union?
Dafür brauchen sie allerdings positive Entwicklungen in der deutschen Wirtschaft. Wie diese zu erreichen sind, dazu haben alle drei Koalitionspartner zuletzt jeweils eigene, teilweise stark voneinander abweichende Konzepte vorgelegt. Das lässt den Schluss zu, dass diese Regierung nicht mehr in der Lage ist, eine gemeinsame Politik in einer schwierigen Wirtschaftslage zu machen. Ist Lindners Konzept einer liberalen Wirtschaftswende daher vielleicht ein Angebot an die Union, künftig wieder gemeinsame Sache zu machen?
Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union hat den Ball jedenfalls am Samstag aufgenommen. Friedrich Merz schreibt in seinem aktuellen E-Mail-Newsletter «Merz-Mail», die Vorschläge von Lindner gingen in die richtige Richtung. Sie seien zum Teil wörtlich übernommen aus Anträgen der Unionsfraktion im Bundestag in den zurückliegenden zwei Jahren. Sie seien insgesamt auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft ausgerichtet.
Während Merz grosse Schnittmengen zwischen den wirtschaftspolitischen Vorstellungen seiner Partei und der FDP sieht, hält er die Sozialdemokraten für rückwärtsgewandt. Wenn der SPD zu Lindners Papier nicht mehr einfalle als das Verdikt von den «neoliberalen Phrasen», dann habe dieser Teil der Bundesregierung noch einen langen Weg vor sich, um zu begreifen, was auf der Welt spätestens seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine auch wirtschaftspolitisch geschehe, schreibt Merz.
Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen in den USA erklärt er, Deutschland sei in ökonomischen und sicherheitspolitischen Fragen auf lange Zeit auf sich selbst gestellt und von seinen eigenen politischen Entscheidungen abhängig, «mehr als je zuvor in den letzten Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges». Vor allem die Schlüsselindustrien der deutschen Volkswirtschaft seien inzwischen von der Krise betroffen, die Automobilindustrie ebenso wie die chemische Industrie, die Stahlindustrie, die Bauindustrie, die Elektroindustrie und der Maschinenbau.
Bricht am Mittwoch die Koalition?
Wie geht es in Berlin nun weiter? Am Samstagabend hatte die «Süddeutsche Zeitung» berichtet, es solle am Sonntag eine Krisenrunde im Kanzleramt geben. Das wurde der NZZ von mehreren SPD-Abgeordneten auf Anfrage bis zum Mittag nicht bestätigt. Am Mittwochabend indes steht die nächste Sitzung des Koalitionsausschusses an. Er koordiniert die Zusammenarbeit der drei Regierungspartner. Scholz, Habeck und Lindner sollen sich dazu Anfang der Woche treffen, um den Ausschuss vorzubereiten.
Es liegt auf der Hand, dass es dabei um den Haushalt 2025 gehen wird. Die Liberalen haben am Samstag noch einmal klar gemacht, dass sie den Verbleib in der Koalition davon abhängig machen, ob und wie das Papier ihres Vorsitzenden in die Regierungspolitik des kommenden Jahres einfliesst. Es werde nur einen Haushalt geben, «wenn wir uns da in irgendeiner Weise stärker durchsetzen», hatte der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler im Deutschlandfunk gesagt. Es gehe für seine Partei darum, Deutschlands Wirtschaft wieder fit zu kriegen und nicht darum, mit wem sie eine Koalition bilde.
Das FDP-Präsidiumsmitglied Thorsten Herbst legte am Sonntag nach. «Sollte es keine grundsätzliche Richtungsänderung in der Wirtschaftspolitik geben, gibt es keine Basis für einen Bundeshaushalt und damit keine Grundlage mehr für diese Regierung», sagte er der «Bild-Zeitung». Diese und auch die Äusserung von Schäffler sind in der Sache klar, lassen aber Interpretationsspielraum. Die Frage lautet, ob Lindner wirklich gewillt ist, sein Wirtschaftswende-Konzept zur ultimativen Forderung zu machen und damit aus der Regierung auszusteigen. Ist also der Mittwoch der Tag des Koalitionsendes?
Es gibt eine Aussage aus seinem nächsten Umfeld, die daran zweifeln lässt. Lars Feld, einer der engsten Berater von Lindner, wurde am Wochenende im «Handelsblatt» gefragt, ob der Finanzminister all seine Forderungen zur unverhandelbaren Voraussetzung für die anstehenden Haushaltsgespräche mache. Felds Antwort lautete, er glaube das nicht. Lindner müsse viele Punkte, aber nicht jeden durchsetzen. Er sei immer verhandlungsbereit gewesen, das werde er auch diesmal sein.
Wer sich zuerst bewegt, hat verloren
Soll heissen: Wenn Sozialdemokraten und Grüne der FDP nur weit genug entgegenkämen, müsste die Koalition nicht platzen. Doch werden sie das tun? Momentan scheint in der deutschen Regierung das Motto zu herrschen: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Anders gesagt: Wenn Scholz Lindner und seine FDP-Minister aus der Koalition werfen würde, weil er die Nase voll hat von dem Theater, schlüge das auf ihn zurück. Wenn indes Lindner die Partnerschaft aufkündigen würde, «um weiteren Schaden für Deutschland abzuwenden», könnte das für ihn negativ sein.
Scholz jedenfalls könnte auch ohne die FDP weitermachen, dann mit einer Minderheitsregierung. Niemand kann ihn zwingen, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Stürzen könnte ihn nur eine neue Mehrheit für einen anderen Bundeskanzler in einer neuen Koalition. Dieses «konstruktive Misstrauensvotum» hat es in der Geschichte der Bundesrepublik schon einmal gegeben: 1982 gegen den damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt.
Damals folgte der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl auf ihn. Doch Union und FDP haben im aktuellen Bundestag keine Mehrheit. Sie brauchten die Grünen dazu. Doch dass die Grünen die Seiten wechseln, dürfte derzeit eher unwahrscheinlich sein. Unabhängig von solchen Rechenspielen gibt es jedoch noch etwas anderes, das einen Koalitionsbruch derzeit fraglich macht. Am Dienstag wählen die USA einen neuen Präsidenten. Die daraus resultierenden Herausforderungen nicht zuletzt für die deutsche Sicherheit werden so immens sein, dass Deutschland zwingend eine handlungsfähige Regierung braucht.
Aus der deutschen Wirtschaft kam am Sonntag Zustimmung zu Lindners Papier. Der Verband der Familienunternehmer teilte mit, er unterstütze die «exzellente Analyse» und die «zielführenden Vorschläge für ein Sofortprogramm», um schnellstens wieder zu volkswirtschaftlichem Wachstum und zu Generationengerechtigkeit zu kommen. Sollten SPD und Grüne das Massnahmenpaket nicht umsetzen wollen, sei die Ampelkoalition gescheitert.