Bei einem höheren Rentenalter könnten sich nur Wohlhabende eine Frühpensionierung leisten: Das ist ein häufiger Einwand gegen die Renteninitiative der Jungfreisinnigen. Doch dies gilt im Prinzip bei jedem Rentenalter.
In der Klimapolitik rufen viele Stimmen nach «Nachhaltigkeit». In der Altersvorsorge ist seit langem das Gegenteil angesagt: die Verschiebung von möglichst vielen Lasten auf kommende Generationen. Die Volksinitiative für höhere AHV-Renten würde die Umverteilung von Jung zu Alt noch massiv verstärken. Die Volksinitiative für ein höheres Rentenalter würde dagegen die Umverteilung wenigstens ein Stück weit bremsen. Doch ein höheres Rentenalter ist gemäss Umfragen viel weniger populär als höhere Renten: Ein höheres Rentenalter riecht nach Mehrarbeit, während der Vorstoss für höhere Renten attraktiv klingt – mit der Botschaft: «Konsumiere heute mehr, und lass andere später dafür bezahlen.»
Was in der Klimapolitik die Senkung des CO2-Ausstosses ist, wäre in der Altersvorsorge die Bindung des ordentlichen Rentenalters an die Lebenserwartung: das Kernprinzip für Nachhaltigkeit. Doch die Gegner bringen Einwände vor, die gemäss der jüngsten Umfrage Resonanz im Publikum finden. Dazu gehören vor allem der Verweis auf die Probleme von Älteren am Arbeitsmarkt sowie die These, dass sich bei einer Erhöhung des Rentenalters nur Reiche eine Frühpensionierung leisten könnten.
Reiche können mehr ausgeben
Die letztgenannte These ist ein Scheinargument: dass sich Reiche weit eher als Arme eine Frühpensionierung leisten können, gilt bei jedem Rentenalter. Eine Erhöhung des ordentlichen Rentenalters verändert diese Differenz nicht. Reiche können sich naturgemäss mehr leisten als Arme. Wer das als Skandal empfindet, müsste per sofort das Privateigentum weitgehend abschaffen. Wozu das führt, hat die Geschichte eindrücklich gezeigt.
Für die Umverteilung von Reich zu Arm ist die Steuerprogression in Verbindung mit Sozialleistungen für Bedürftige das wirksamste Instrument. Die Frage des Rentenalters ist dagegen vor allem verbunden mit der (versteckten) Umverteilung von Jung zu Alt: Je länger das ordentliche Rentenalter trotz laufendem Anstieg der Lebenserwartung unverändert bleibt, desto grösser ist die Subventionierung der Rentner zulasten der Jüngeren.
Bei der Gründung der AHV 1948 lag die Restlebenserwartung für 65-Jährige im Mittel bei knapp 14 Jahren, heute sind es über 23 Jahre. Die Menschen werden nicht nur laufend älter, sondern sie bleiben auch länger gesund. Doch hinter den Durchschnittswerten der Lebenserwartung stecken erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen. Kritiker verweisen oft darauf, dass Arme im Mittel weniger alt werden als Reiche. Das ist kein Argument gegen eine generelle Erhöhung des ordentlichen Rentenalters. Aber es ruft nach der Frage, ob ein einheitliches Rentenalter trotz unterschiedlicher Lebenserwartung «fair» ist.
Der Vorteil der Frauen
Diese Diskussion ist wie so vieles in der Politik der Altersvorsorge mit Heuchelei durchtränkt. Die politische Linke verweist auf lautesten darauf, dass Arme weniger alt werden als Reiche – doch die Linke bekämpfte am stärksten nur schon die Angleichung des Rentenalters der Frauen an jenes der Männer, obwohl die Frauen im Mittel deutlich älter werden als die Männer.
Gemäss den jüngsten Daten der Bundesstatistiker liegt die Lebenserwartung der Frauen im Mittel etwa drei Jahre über jener der Männer. Aktuelle Daten zu den verschiedenen Einkommens- und Bildungsniveaus liegen laut dem Bundesamt für Statistik nicht vor. Es verweist auf Erhebungen zu älteren Daten bis 2005 und auf die Sterbetafeln bis 2013. Klar ist die Tendenz: Mit dem Einkommen steigt die Lebenserwartung. Das Gleiche gilt für den Bildungsstand. Zwischen Bildung und Einkommen gibt es ebenfalls einen starken Zusammenhang, so dass nicht zum Voraus klar ist, ob die höhere Lebenserwartung der Gutverdienenden vor allem mit der höheren Bildung zu erklären ist oder ob die Einkommen für sich allein auch ein wesentlicher Erklärungsfaktor sind.
Verheiratete werden älter
Zu den Zahlen. Die Lebenserwartung von 65-Jährigen mit tertiärem Bildungsabschluss liegt im Mittel gut zwei Jahre höher als bei 65-Jährigen ohne nachobligatorische Bildung. Die Daten der Bundesstatistiker zeigen auch Unterschiede aus anderen Blickwinkeln. Zum Beispiel: 65-jährige Verheiratete leben im Mittel noch dreieinhalb Jahre länger als 65-jährige Ledige. Oder: 65-jährige Ausländer leben im Mittel noch knapp ein Jahr länger als 65-jährige Schweizer (was die Statistiker mit der Mutmassung begründen, dass in die Schweiz Eingewanderte gemessen an der Gesamtbevölkerung aus den Herkunftsländern überdurchschnittlich gesund/robust sind). Oder: 65-Jährige im Kanton Genf leben im Mittel noch eineinhalb bis zwei Jahre länger als 65-Jährige im Kanton Glarus.
Mit genügend Daten liessen sich wohl noch weitere Unterschiede herausdestillieren. Wer das ordentliche Rentenalter differenziert festlegen will, müsste in letzter Konsequenz für jede Einzelperson auf Basis von deren Gruppenzugehörigkeit und deren genetischem Rucksack ein individuelles Normrentenalter festlegen. Praktikabel wäre das nicht.
Man kann einiges beeinflussen
Ob es «fair» wäre, ist unklar. Zum einen ist «Fairness» ein subjektiver Begriff, den unterschiedliche Leute unterschiedlich verwenden. Zum anderen ist zu fragen, ob die Differenzen in der Lebenserwartung vor allem durch Glück/Pech bedingt sind oder durch Verhaltensunterschiede. Bei der Differenz der Geschlechter ist klar, dass die Männer einen erheblichen Teil ihrer höheren Sterblichkeit selbst verschulden: Sie rauchen mehr, sie trinken mehr Alkohol, sie verursachen mehr Unfälle, und sie ernähren sich weniger gesundheitsbewusst. Laut diversen Studien dürfte ein Grossteil der Differenz der Geschlechter (vielleicht etwa zwei Drittel bis drei Viertel) nicht durch biologische Faktoren erklärt sein, sondern durch Verhaltensunterschiede. Wohl längst nicht jeder würde es als «fair» empfinden, die Frauen für ihr stärker gesundheitsbewusstes Verhalten mit einem höheren Rentenalter zu bestrafen.
Auch bei den Differenzen zwischen den verschiedenen Bildungs- bzw. Einkommensgruppen spielen Verhaltensunterschiede eine grosse Rolle. Menschen mit höherer Bildung (bzw. höherem Einkommen) verhalten sich in der Tendenz gesundheitsbewusster – etwa in Sachen Ernährung, Bewegung und Rauchen. Gemäss den Bundesstatistikern ist zum Beispiel bei den Personen ohne nachobligatorische Ausbildung der Anteil der körperlich Inaktiven und auch der stark Übergewichtigen viel höher als bei den tertiär Gebildeten. Sehr deutlich sind auch die Unterschiede bei den Raucherquoten.
Auch die soziale Situation kann aber eine erhebliche Rolle spielen. So leiden Personen ohne nachobligatorische Ausbildung öfter unter erheblichen psychischen Belastungen und verzichten öfter aus finanziellen Gründen auf nötige Gesundheitsleistungen. Auch solche Unterschiede könnte man wohl letztlich zum Teil auf Unterschiede im früheren Bildungsverhalten zurückführen, doch das ginge relativ weit. Generell dürften die Grenzen zwischen «sozial bedingten» und «verhaltensbedingten» Unterschieden fliessend sein.
Eine Analyse aus den USA von 2010 liess mutmassen, dass vielleicht 30 bis 40 Prozent der Differenz in der Lebenserwartung verschiedener Einkommensklassen mit Verhaltensunterschieden zu erklären sind, eine ältere Studie kam auf 57 Prozent. In der Schweiz, wo die sozialen Unterschiede deutlich geringer sind und der Zugang zum Gesundheitswesen eher gleichmässig verteilt ist, dürften die Verhaltensunterschiede noch eine grössere Rolle spielen als in den USA.