Die Verdichtung hat erst begonnen – und in den begehrten Städten nützt den Mietern Flexibilität zu wenig. Ein Gespräch mit André Wyss, Chef des Bauriesen Implenia.
Herr Wyss, Implenia ist der grösste Schweizer Baukonzern. Die Schweiz braucht dringend mehr Wohnungen. Aber Implenia baut kaum Wohnungen. Warum?
Es stimmt, bei kleineren Wohnbauten sind wir praktisch nicht tätig. Aber bei Vorhaben mit mehr als 50 Wohnungen und komplexen oder schwierigeren Projekten sind wir schon dabei. Sowohl bei Arealen und grösseren Überbauungen wie auch bei der Infrastruktur. Denn was passiert? Die Bevölkerung wächst nicht nur, die Bevölkerung geht auch in urbane Zentren. Da baut man in die Höhe und in die Tiefe, nicht klein, sondern gross. Das ist sehr interessant für uns. Das kann nicht jeder.
Warum ist der normale Wohnungsbau unattraktiv?
Meistens bieten da 10 oder 15 Bauunternehmen an, und nur der beste Preis gewinnt. Bei dieser Konkurrenz sind die Margen klein. Um ein Mehrfamilienhaus zu bauen, sind wir nicht besser aufgestellt als eine kleinere oder mittelgrosse Firma, die vor Ort ansässig ist. Insgesamt macht der Wohnungsbau weniger als 20 Prozent unserer Hochbautätigkeit aus.
Ihre zentralen Märkte sind die Schweiz und Deutschland. Im Moment ist da wenig zu holen.
Könnte man meinen. Aber der Tiefbau wächst in allen Märkten, auch in Deutschland und in der Schweiz. Dort sind wir im Infrastrukturbereich sehr zuversichtlich. Auch beim Hochbau gibt es grosse Projekte wie Spitäler, Forschungseinrichtungen und Datenzentren, wo wir ein Wachstum sehen. Was zurückgegangen ist, ist der reine Wohnungsbau ausserhalb von urbanen Zentren.
Innerhalb der Städte geht es weiter?
Die Nachfrage ist sehr hoch. Die Leute wollen selten aufs Land hinausziehen, und die Haushaltsgrössen werden immer kleiner. Daher nimmt die Wohnfläche pro Person zu. Allerdings wird im Moment nicht so viel investiert, wie nötig wäre. Die Zinsen sind gestiegen, und die Teuerung hat sich auch auf den Bausektor ausgewirkt. Deshalb haben sich Bauprojekte verteuert. Ausserdem sind die zum Teil endlosen Bewilligungsverfahren ein Problem. In der Schweiz sorgt die Zuwanderung für zusätzliche Wohnungsengpässe.
Ist die Zuwanderung in der Schweiz zu hoch?
Die Trends Urbanisierung und Einwanderung sind kaum zu stoppen. Man muss darüber reden, was die relevante Einwanderung ist, die wir in der Schweiz brauchen. Das ist Sache der Politik.
Kann der Wohnungsmarkt die Einwanderung verkraften?
Ja, rein rechnerisch: Die Fläche der Schweiz beträgt etwa 41 000 Quadratkilometer, rund 5 Prozent davon sind Bauzone. Davon ist rund die Hälfte für Wohnungen vorgesehen. Von diesem Teil sind 17 Prozent noch nicht verbaut. Wenn man dort mit gleicher Verdichtung bauen würde, wie sie sonst im Land herrscht, könnte man theoretisch zusätzlichen Wohnraum für 1,6 Millionen Menschen erstellen. Einwanderung findet aber natürlich vor allem in urbane Zentren statt. Grundsätzlich unterstütze ich dort die Verdichtung. Wenn man näher beieinander ist, sind die Mobilitäts- und Transportprobleme kleiner. Auch für die Nachhaltigkeit ist es besser.
Was für eine Verdichtung braucht es?
In die Höhe und in die Tiefe. In die Höhe baut man das, wofür man Licht braucht, wo man wohnen und leben will. Für vieles andere reicht die Tiefe. Die ganze Verkehrslogistik kann man nach unten verlegen, Stichwort «Cargo sous terrain». Oder Datenzentren. Oder Teile von Spitälern. Ein Operationssaal muss nicht unbedingt Tageslicht haben, während die Bettenstationen besser in die Höhe gebaut werden.
Das klingt in diesem Umfang wie eine Vision. Wir sind aber in der Schweiz. Wie realistisch ist das?
Auf jeden Fall ist die Urbanisierung real. Die Städte wachsen alle. Die Verdichtung hat hierzulande erst begonnen. Wenn man sieht, wie viele Personen in Zürich auf 100 Quadratmetern leben, dann ist das weit weg von einer Metropole wie London oder Paris. In Winterthur planen wir jetzt ein 100 Meter hohes Wohnhaus. Das wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten zur Reform des Wohnungsbaus, was wäre das?
Sicher einmal die ganze Geschichte mit den Baubewilligungen. Das muss einfach rascher gehen. Im Extremfall dehnt sich eine Bewilligung in der Schweiz auf vier bis fünf Jahre aus, wenn die Einsprachen bis zum Bundesgericht hochgehen. Für einen Investor ist das sehr schwierig. Zudem gibt es auch eine sehr starke Regulierung, etwa beim Denkmalschutz oder Lärmschutz. Beim Lärm sind die Auflagen in den Städten zum Teil sehr gross. Aber wenn man wegen guter Verkehrsanbindung neben einen Bahnhof zieht, kann man mit gewissen Einflüssen umgehen.
Können aber nur manche Menschen.
Mehr, als man denkt. Das ist der dritte Punkt: Man sieht oft, dass Mieter mit gewissem Lärm weniger ein Problem haben. Aber gebaut wird trotzdem nicht, weil strenge Vorschriften gelten. Die Mieter sind oft sehr flexibel, aber es hilft ihnen nicht. Deshalb müssen alle Gruppen, die Mieter, die Investoren, die Politik, die öffentliche Hand, Stadtplaner und Verkehrsexperten in einen Dialog treten und gemeinsam Lösungen suchen. Allein kann keiner das Bauen beschleunigen.
Hier, in der neuen Implenia-Zentrale im Glattpark, haben Sie verdichtet und setzen auf hybrides Arbeiten. Geht dieses Konzept auf?
Für uns definitiv. Wir rechnen mit 0,6 Arbeitsplätzen pro Mitarbeitenden. Das ist grosszügig. Es gibt Firmen, die planen mit 0,4 oder 0,3. Wir hätten auch weniger machen können, aber dann sässen die Leute enger zusammen und es wäre nicht so angenehm. Früher hat man mit 1 oder 1,2 geplant. Übrigens wurde das Konzept vor Corona entworfen und hat sich nun in Kombination mit Home-Office als richtig erwiesen.
Implenia setzt viel auf Infrastruktur. Zugegeben, in Deutschland bröckeln die Brücken – aber in der Schweiz ist doch alles perfekt?
Die Infrastruktur, darunter auch Brücken, Spitäler, Forschungszentren, muss alle paar Jahre erneuert werden, sonst ist man als innovatives Land nicht vorne dabei. Diese hochspezialisierten Infrastrukturbauten werden eine signifikante Nachfrage mit sich bringen. Einige unserer Vorzeigeprojekte sind eben Spitäler, etwa der Neubau des Kantonsspitals Aarau. Eine der Herausforderungen ist, dass wir dort parallel zum daneben laufenden Spitalbetrieb neu bauen.
Besser, als neue Flächen zu suchen, die schwierig zu bekommen sind.
Warum zont man nicht mehr um? Warum nimmt man nicht bestehende Gebäude und baut diese um? Auch komplexe. Das neue Hauptquartier der Zurich Versicherung ist zum Beispiel eine gelungene Kombination aus Umbau und Neubau. Oder die ganze Lokstadt in Winterthur. Da wurden früher Lokomotiven gebaut und bald haben wir 750 Wohnungen auf dem Areal. Wir haben auch eine Bank im Raum Zürich umgebaut in Wohnungen. Aber das ist komplexer und schwieriger. Es braucht umfangreichere Bewilligungen und kann etwas teurer sein, dafür ist es oft nachhaltiger.
Wenn Sie sich ein Infrastrukturprojekt wünschen dürften, was wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass die Schweiz mehr Mut hätte, in den Städten nach unten zu bauen. Eine U-Bahn gibt es in der Schweiz praktisch nicht. Wenn man sich dagegen überlegt, wie viel Platz die Trams in Basel und Zürich einnehmen, wie ineffizient diese zum Teil sind und wie viele Unfälle es gibt. Da ist die Tiefe eine mögliche Lösung.
Warum dauert dieses Umdenken so lange?
Das ist eine Frage der öffentlichen Meinungsbildung und der Politik. Der erste Schritt ist der teuerste und der schwierigste. Wenn man bei null anfängt, ist es umso schwieriger. Der Druck muss wohl so gross werden, dass man keinen anderen Ausweg sieht. Wenn Städte 20 Jahre zurückkönnten, würden wohl viele anders planen.
Bei Implenia waren Sie es, der anders geplant hat.
Ich habe im Oktober 2018 angefangen. Ein halbes Jahr später haben wir eine grosse Transformation begonnen, die im Sommer 2022 abgeschlossen wurde. Die alte Implenia war bereits die Nummer 1 in der Schweiz und international aktiv, aber nicht optimal positioniert und organisiert. Man hat auch kleinere Projekte gemacht, zum Beispiel eben Häuser mit wenigen Wohnungen gebaut. Jetzt, mit einer klaren Strategie, die ausgerichtet ist auf grosse, komplexe Projekte, haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. In der Schweiz und in Deutschland bieten wir unser gesamtes Portfolio an. Im Rest Europas ist es der Tunnelbau mit entsprechender Infrastruktur.
Implenia-Aktien werden mit einem hartnäckigen Abschlag gegenüber anderen Baufirmen gehandelt. Wie erklären Sie sich das?
Wir liefern seit einigen Jahren konstant bessere Zahlen. Aber es braucht Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Wir arbeiten daran, das operative Geschäft immer besser und profitabler zu machen. Unsere Ebit-Marge lag 2023 bei 3,4 Prozent, mittelfristig sollen es 4,5 Prozent sein. Das wird eher in drei als in fünf Jahren erreicht werden. Wir gehen davon aus, dass der Aktienkurs der Performance folgen wird.
Der Bau ist grundsätzlich margenschwach. Wo soll die Rendite herkommen?
Wir sind auf einem sehr guten Weg, als integrierter, multinational führender Bau- und Immobiliendienstleister unsere Marge weiter zu stärken. Auch darum haben wir vergangenes Jahr Wincasa übernommen, den grössten Immobilienverwalter der Schweiz. Es gibt weitere Gebiete wie die vorgelagerte Planung und das Engineering, da können wir uns weiterentwickeln. Wenn man zudem ein absoluter Spezialist in gewissen Dingen ist, muss man dort zu den Top 3 gehören. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass wir Spitäler auch an anderen Orten in Europa bauen.
Sie sind seit sechs Jahren CEO. Wird es da nicht Zeit für einen Wechsel?
Mit 65 Jahren ist in der Schweiz Schluss, oder? Ich bin erst 57 Jahre alt. Nein, im Ernst: Nach 34 Jahren bei Novartis hatte ich mir gedacht: Eine Position als CEO bei einem börsenkotierten Schweizer Unternehmen, das international noch Entwicklungspotenzial hat und sich verbessern will, wäre doch ideal. Habe ich an Implenia gedacht? Nein, natürlich nicht. Da kamen Externe auf mich zu. Doch die vergangenen sechs Jahre waren sehr erfüllend.
Implenia – kein Mauerblümchen
bet. · Auf vielen Schweizer Baustellen blüht eine Blume: die Margerite im Logo von Implenia. Die Margerite ist eine kleine und zarte Blume. Grösse ist nicht alles für den wichtigsten Bau- und Immobiliendienstleister des Landes. Gemessen am Umsatz war Implenia vor einigen Jahren noch deutlich grösser, aber auch deutlich weniger profitabel. Weniger Masse, mehr Klasse, verordnete der 2018 angetretene Firmenchef André Wyss. Zuvor verbrachte Wyss seine gesamte Karriere bei Novartis, angefangen mit der Lehre als Chemikant.
Der Konzern zählt rund 9000 Mitarbeiter, die 2023 einen Umsatz von 3,6 Milliarden Franken sowie einen Betriebsgewinn (Ebit) von 123 Millionen Franken erwirtschafteten. Fast die Hälfte des Geschäfts wurde in der Schweiz gemacht, weitere 30 Prozent stammten aus Deutschland. Zum Hochbau kommt der Tiefbau mit einem Schwerpunkt auf Tunnelprojekten in Europa, etwa dem neuen Gotthard-Strassentunnel. Entwicklung und Management von ausgewählten Immobilien sowie die Division Specialties, in der zum Beispiel der Holzbau zu finden ist, komplettieren die vier Geschäftsbereiche.