Unsere Autorin forscht nach ihrer Herkunft.Eine Reise zu den Toten
Zwischen den Jahren wurde ich von den Toten heimgesucht. Ich hatte mich noch nie richtig mit den zwei dicken roten Büchern beschäftigt, die schon immer im Bücherregal meiner Eltern standen. «Roth – Lebensbilder einer Familie aus dem Luzerner Hinterland», stand in goldener Schrift darauf. Dieses Jahr sogen sie mich ein.
Ich blätterte durch Ahnentafeln und Stammreihen und begann zu begreifen, was für ein Werk das war. Die 600-jährige Geschichte meiner Vorfahren, vom Stammvater Konrad Roth, im ausgehenden Mittelalter geboren, in einer Linie bis zu meinem Vater. Selbst mein Name stand darin. Neun Jahre lang hatte ein gewisser Alexander Roth aus Zürich geforscht, drei weitere hatte er gebraucht, um alles aufzuschreiben.
Ich versank in den Schicksalen meiner Vorfahren. Las, wie Stammvater Konrad sich aus der Leibeigenschaft loskaufte und wie Vinzenz dem stattlichen Hof des grössten Familienzweigs seinen Namen gab: Zänzenhof. Fast dreihundert Jahre lang lebten und bauerten da Roths, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts sinkende Getreidepreise, Missernten und Landflucht den Hof in den Konkurs trieben. Ich las von Fremdenlegionären, Hanfspinnerinnen und von Balz und Sepp, die das «Tabaktrinken», das Rauchen, einfach nicht lassen konnten.
Irgendwann war ich bei Verena Roth, die um ein Haar der Hexenverfolgung zum Opfer gefallen wäre. Das Verhörprotokoll hält fest, «das sy verbottens bruche, und allein ettliche Kranckheiten mit natürlichen mittlen curirt». Ich las von Anna Roth, die ziemlich genau hundert Jahre zuvor an dem Ort, an dem ich zur Schule ging, als arme Bettlerin starb. Sie hatte das Unglück, mit 19 Jahren Vollwaise und bald darauf Mutter eines unehelichen Kindes geworden zu sein.
Trotz aller Verwandtschaft fiel es mir schwer, mich mit den Schicksalen dieser Menschen zu verbinden. Spare ich heute noch, weil meine Verwandten vor Jahrhunderten ihren Hof verloren? Ich weiss es nicht. Auch wenn gerade Linien von einer Generation zur nächsten führen, können sich die Spuren dazwischen verlieren. So kam es mir vor.
Immer bei den Roths, die weggegangen waren, schlug mein Herz etwas höher. Bei Johann, der als Musikant nach Neapel ging, bei Josef, dem umherziehenden Schreiberling. Aber hatten sie etwas mit mir zu tun? Ich wollte Alexander Roth fragen, den Autor des Buches hatte es ja auch nach Zürich verschlagen. Er war Radio-Redaktor geworden. Journalist, wie ich.
Er müsste heute 83 Jahre alt sein. Im Buch fand ich seine Adresse. An einem der ersten Tage des Jahres steuerte ich meine Joggingroute dorthin. Die Stadt erwachte wie aus einem Winterschlaf, die Leute stellten Kartons auf die Strasse, die Lehrerinnen richteten ihre Schulzimmer ein, voller Hoffnungen für das neue Jahr. Ich bog in ein Quartier, plötzlich stand ich vor dem Häuschen. Es war frisch renoviert, im Fenster hingen Papiersterne. «Familie Zemp» stand auf dem Briefkasten. Am Balkonfenster standen ein junger Vater und sein Sohn. Ich winkte. Sie winkten zurück.
Rafaela Roth, 37, «Magazin»-Reporterin, denkt hier nach über die Unzulänglichkeiten des Lebens, Sachbuch-Sensationen und ihre anspruchsvollen Balkontomaten. Sie schreibt im Wechsel mit Martin Meyer, 72, dem ehemaligen Feuilleton-Chef der NZZ.
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