Im Konflikt zwischen Israel und Iran drohen Libanons Christen zwischen die Fronten zu geraten. Viel ausrichten können sie dagegen nicht. Stattdessen schwankt ihre Stimmung zwischen Wut, Verzweiflung und Gottesfurcht. Eine Reportage.
Als Bechara Boutros Rai in der kleinen Küstenstadt Byblos im Norden Libanons vor den Altar tritt, wirkt er zutiefst erschüttert. Immer wieder ringt der 84-jährige Patriarch von Antiochia und oberste Geistliche der maronitischen Christenheit um Fassung. «Pascal Sleiman war ein guter Mensch», sagt er. «Und ein guter Christ». Dann versagt seine Stimme, und er fängt an zu weinen. In der Kirche Saint-George brandet Applaus auf.
Die Bänke im Gotteshaus sind voll, in den Gängen wurden sogar Plastikstühle aufgestellt, um Platz für die Trauernden zu schaffen. Die meisten haben es allerdings gar nicht erst bis ins Innere der Kirche geschafft, wo die politischen und geistlichen Führer der christlichen Libanesen in der ersten Reihe sitzen. Stattdessen warten sie in den umliegenden Strassen und Gassen, bis der Leichnam Sleimans nach draussen getragen wird.
Der Mord trifft die libanesischen Christen ins Mark
Bis vor kurzem war Sleiman ein kaum bekannter Lokalpolitiker der Christenpartei «Libanesische Kräfte» (FL) in Byblos. Doch vor drei Wochen wurde der dreifache Vater entführt und ermordet, angeblich von einer Gruppe syrischer Krimineller. Sein Tod ist für Libanons Christen zu einem Fanal geworden. Tausende aus dem ganzen Land sind zu seinem Begräbnis gekommen, der Patriarch höchstpersönlich liest die Messe.
«Sleiman lebt in uns allen weiter», sagt Johnny, ein junger Student, der extra mit ein paar Freunden aus Beirut hergekommen ist, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine Fahne mit einem roten, unten abgeschnittenen Kreuz. Es ist das Symbol der christlichen Milizen aus dem libanesischen Bürgerkrieg. «Wir lassen uns nicht vertreiben», sagt Johnny. «Wir werden unsere Kreuze immer hochhalten.»
Der Mord trifft die libanesischen Christen ins Mark. Er macht sie wütend, zeigt ihnen aber auch, wie schwach sie sind. Ihre Politiker sind zerstritten, ihr Land ist nach Jahren der Misswirtschaft ein wirtschaftliches Trümmerfeld. Und als wäre das nicht schlimm genug, sind sie jetzt auch noch dem mächtigen Hizbullah ausgeliefert – der von Iran unterstützen Schiitenmiliz, die damit droht, Libanon in Eigenregie in einen apokalyptischen Krieg mit Israel zu stürzen.
«Wir sind die letzte Bastion von Freiheit und Demokratie»
«Wir wollen diesen Krieg nicht», sagt Ghassan Hasbani, ehemaliger Minister und Parlamentsabgeordneter der FL, der ebenfalls nach Byblos gekommen ist. Libanons Christen seien die letzte Bastion von Freiheit und Demokratie im Nahen Osten. «Der Westen muss das verstehen, bevor es zu spät ist.» Deshalb brauche es unbedingt mehr Unterstützung – und mehr Druck auf Iran. Aber das ist schwer, denn die meisten westlichen Staaten haben die Geduld mit Libanon und seinen korrupten Politikern längst verloren.
Doch ohne Hilfe haben die Christen dem übermächtigen Hizbullah wenig entgegenzusetzen. An Sleimans Beerdigung ruft die Menge zwar immer wieder Verwünschungen gegen die Schiitenmiliz. Christliche Politiker stimmen mit ein und beschuldigen den Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah, Libanon wahlweise für die Palästinenser oder die Iraner opfern zu wollen. Gleichzeitig herrscht Angst. Denn fast alle hier sind davon überzeugt, dass der Hizbullah hinter dem Mord steckt.
Die offizielle Version der Sicherheitskräfte, dass der Politiker Opfer eines gewöhnlichen Verbrechens durch eine Gruppe krimineller Syrer geworden sei, glaubt hingegen keiner. Das hält einige trotzdem nicht davon ab, Jagd auf Syrer zu machen. Die rund 1,5 Millionen zumeist muslimischen Flüchtlinge aus dem Nachbarland sind vielen Christen ebenfalls ein Dorn im Auge. Sie gelten ihnen als Fussabtreter und Besatzer zugleich – und als weiteres Symbol für den gefühlten Verlust der Heimat.
Gelassenheit und Verzweiflung
Tatsächlich haben die Christen einen langen Niedergang hinter sich. In den fünfziger und sechziger Jahren – jener zur goldenen Ära verklärten Epoche vor dem Bürgerkrieg – waren sie Herren über Libanon und machten aus dem multikonfessionellen Land ein levantinisches Monaco. Bis heute ist Libanon das einzige Land im Nahen Osten mit einem christlichen Staatsoberhaupt. Doch die liberale Handelsrepublik war alles andere als egalitär und trug deshalb den Keim des Untergangs in sich.
Der blutige Bürgerkrieg, den die Christen von 1975 bis 1990 gegen linke Muslime und Palästinenser ausfochten, beendete dann ihre Hegemonie. Erholt haben sie sich davon bis heute nicht. So liegt nun eine nostalgische Melancholie über den verwitterten Stadtvierteln Ostbeiruts. Es gibt Schneidereien, die «Chez Charbel» oder «Chez Tony» heissen, und Coiffeursalons, wo sich Französisch sprechende Mittelklassefrauen die Haare machen lassen, während draussen auf den Strassen der Müll vergammelt.
Derweil verlässt die jüngere Generation das Land in Scharen. Tausende junger Christen suchen anderswo ihr Glück: in Europa, Nordamerika oder am Golf. Zwar eröffnen in Ostbeirut trotz Krieg und Wirtschaftskrise jedes Wochenende neue Restaurants, wo die Besucher jene typisch libanesische Gelassenheit zelebrieren. Doch unter der Oberfläche macht sich Resignation und Verzweiflung breit. Irgendwann, so hört man immer wieder, werde es in Libanon wohl keine Christen mehr geben.
Die Essenz Libanons
Aber nicht alle denken so. «Wir Maroniten sind die Essenz Libanons. Ohne uns hört das Land auf zu existieren», sagt Pater Charbel Machlouf, der Priester im Bergdorf Bcharri, rund eine Stunde nördlich von Byblos. «Solange auch nur einer von uns übrig ist, wird das Christentum weiterbestehen.» In seiner Gemeinde sei die Kirche bis heute voll, erzählt er. Zum Beweis lädt er im Keller des Gotteshauses zum Katechismus ein, wo die Jugendlichen aus Bcharri brav die Evangelien lernen.
Bcharri, das hoch oben in den Libanon-Bergen auf einem Felsvorsprung liegt, umgeben von üppigen Almen und schneebedeckten Gipfeln, gilt als Rückgrat der libanesischen Christenheit. Der Weg dorthin – erst über die Küstenautobahn, dann über kurvenreiche Bergstrassen – ist auch ein Weg zurück in eine finstere Vergangenheit. Denn überall in den Tälern liegen versteckte Klöster und Einsiedeleien, wo die im 7. Jahrhundert aus Syrien geflohenen maronitischen Christen einst vor Verfolgung Zuflucht suchten.
In den Gassen des Dorfes hängt dichter Nebel. Die Leute sind hartgesotten und gottesfürchtig. Viele leben von der Feldarbeit, betreiben kleine Geschäfte oder arbeiten im Sommer als Touristenführer. Die eleganten Salons und Restaurants von Beirut sind weit weg. Man nehme eben das, was man bekomme, sagt Jonathan, der mit ein paar anderen jungen Männern ein Ladengeschäft renoviert. «Viel Arbeit gibt es nicht hier. Aber wir haben Vertrauen in Gott.»
«Der Hizbullah kämpft nur für Iran»
Bcharri ist aber noch aus einem anderen Grund berühmt: Das Dorf gilt als Kriegerfestung. Fast jeder alte Mann hier hat im Bürgerkrieg gekämpft, und überall hängen die Bilder des ehemaligen Milizenführers und FL-Chefs Samir Geagea. «Wir haben über zweihundert Märtyrer hier», sagt Bassil Dakkar, der gemeinsam mit ein paar Freunden vor der lokalen Parteizentrale der FL sitzt, raucht und Tee trinkt. Wie alle in der Runde war auch er einst bei der christlichen Miliz.
Man habe damals für die Christenheit gekämpft, erzählt der 58-Jährige. Für die Libanons, aber auch für den übrigen Nahen Osten, wo die Glaubensbrüder immer wieder Verfolgungen ausgesetzt seien. Libanons Christen seien schon immer wehrhaft gewesen, nicht so wie die übrigen Christen in der Region. Und wenn es sein müsse, sagen die Männer, dann werde man in Zukunft eben erneut in den Kampf ziehen. Einer von ihnen zieht demonstrativ eine Pistole aus dem Hosenbund.
Dass sie dem von Teheran mit schweren Waffen versorgten Hizbullah unterlegen sind, schreckt sie nicht ab. «In den Siebzigerjahren war das auch so», sagt Dakkar. «Aber wir wissen, wofür wir kämpfen. Das macht uns stark.» Was heute geschehe, sei Teil eines grossen Existenzkampfes, der zurückreiche bis zu den Christenverfolgungen der Frühzeit. Und darin liege auch der Unterschied zum Kampf des Hizbullah. «Denn der Hizbullah kämpft für keine Sache», sagt Dakkar. «Er kämpft nur für Iran.»








