Das Sparkapital aus der beruflichen Vorsorge zu beziehen, anstatt auf die Rente zu setzen, ist en vogue. Das muss bei den Klagen über gesunkene Pensionskassenrenten einberechnet werden.
Viele Schweizer Pensionskassen haben in den vergangenen Jahren ihre Renten gekürzt. Die Senkungen der Umwandlungssätze haben bei vielen Menschen Sorgen ausgelöst, dass das Geld im Alter nicht reichen könnte. Das dürfte ein wichtiger Grund für die Annahme der Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds zur Einführung einer 13. AHV-Rente im März gewesen sein.
Mit dem Umwandlungssatz wird das bei der Pensionierung angesparte Kapital in der Pensionskasse multipliziert, dies ergibt die Summe der jährlichen Rente. Beträgt das Kapital beispielsweise 500 000 Franken und der Umwandlungssatz liegt bei 6 Prozent, so erhält der Versicherte von der Pensionskasse eine Rente von 30 000 Franken pro Jahr. Senkt die Vorsorgeeinrichtung den Satz hingegen auf 5 Prozent, so fällt die jährliche Rente auf 25 000 Franken.
Kapitalzahlungen nicht einberechnet
Wie die im November vergangenen Jahres veröffentlichte Neurentenstatistik des Bundesamts für Statistik (BfS) zeigt, lag eine neu ausbezahlte Altersrente aus der beruflichen Vorsorge im Jahr 2022 für Frauen im Median bei 1217 Franken, bei Männern betrug sie 2077 Franken pro Monat. Beim Median ist die Hälfte der ausbezahlten Renten höher und die andere Hälfte tiefer als der entsprechende Betrag.
Auf den ersten Blick wirkt das nicht besonders üppig. Allerdings sind in dieser Zahl die Kapitalzahlungen aus der beruflichen Vorsorge nicht enthalten. Schliesslich können sich Versicherte ihr Pensionskassenkapital bei der Pensionierung auch auszahlen lassen oder sich für einen Mix aus Rente und Kapital entscheiden. Für das Jahr 2022 betrug der Median-Betrag der von den Pensionskassen und Freizügigkeitseinrichtungen bezahlten Kapitalleistungen bei den Männern rund 153 600 Franken und bei den Frauen 65 600 Franken.
Genau hinschauen bei Pensionskassenrenten
Bei der Debatte über die gekürzten Pensionskassenrenten sollte man also genau hinschauen. Darauf verweist auch der Think Tank Avenir Suisse in einer neuen Analyse. Dieser zufolge sind die durchschnittlichen Leistungen aus der beruflichen Vorsorge im Zeitraum 2015 bis 2022 nur wenig gesunken – entgegen der landläufigen Meinung.
Das ist auf die wachsende Bedeutung der Kapitalbezüge zurückzuführen. Laut Jérôme Cosandey von Avenir Suisse, der die Studie zusammen mit Sonia Estevez erstellt hat, ist der Anteil der Neurentner, die sich ihr Pensionskassenkapital ganz oder teilweise auszahlen liessen, zwischen 2015 und 2022 um 7 Prozentpunkte auf 56 Prozent gestiegen. Die Median-Beträge der bezogenen Sparvermögen haben von 85 000 auf 114 000 Franken zugelegt.
Um ein genaueres Bild der Entwicklung der Leitungen aus der beruflichen Vorsorge zu erhalten, hat Avenir Suisse eine «äquivalente Rente» berechnet, in der das Volumen der Kapitalbezüge einberechnet wird. Das ausbezahlte Kapital wird in hypothetische Jahresrenten umgelegt. Rechnet man es mit ein, so verringert sich der Renten-Rückgang bei einem durchschnittlichen Umwandlungssatz von 9 Prozent auf 5 Prozent im Zeitraum 2015 bis 2022. Berücksichtige man, dass die Renten wegen der steigenden Lebenserwartung im Durchschnitt sechs Monate länger ausbezahlt werden, fällt der angebliche deutliche Leistungsabbau noch geringer aus.
Leistungen an Frauen gestiegen
Laut dem Think Tank sind die Leistungen der Frauen unter Einberechnungen der höheren Lebenserwartung zwischen 2015 und 2022 sogar je nach Umwandlungssatz um 2 Prozent bis 6 Prozent gestiegen. Bei den Männern sind sie jedoch um 4 bis 9 Prozent zurückgegangen. Die höheren Leistungen bei den Frauen sind durch die stärkere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt zu erklären, sagt Cosandey. Die Senkung bei den Männern sei wohl zum Teil die Folge der reduzierten Umverteilung von Aktiven zu Rentnern – die Rentner werden heute weniger systemwidrig quersubventioniert.
Auch die Ende Mai vorgestellte Pensionskassen-Studie des Vorsorgeanbieters Swisscanto zeigte die wachsende Bedeutung von Kapitalzahlungen in der beruflichen Vorsorge auf. Dieser zufolge bezogen im Jahr 2022 bei den Männern 37 Prozent der Versicherten ihr Pensionskassen-Vermögen bei der Pensionierung ausschliesslich als Kapital. Im Jahr 2015 waren es noch 29 Prozent gewesen. Bei den Frauen waren es 37 Prozent nach 32 Prozent im Jahr 2015.
Interessenkonflikte bei Beratungen
Der verstärkte Bezug von Kapitalleistungen aus der Pensionskasse ist nicht unproblematisch. Es ist davon auszugehen, dass sich viele Pensionäre wohl aufgrund der niedrigeren Umwandlungssätze der Pensionskassen dafür entscheiden. In Finanzkreisen ist allerdings zu hören, dass vielen Menschen zu wenig bewusst sei, dass das Geld dann bis zum Ende des Lebens reichen müsse. Zudem wird es mit zunehmendem Alter immer schwieriger, das Geld selbst zu verwalten, da die kognitiven Fähigkeiten nachlassen.
Es spricht folglich einiges dafür, die Lebenshaltungskosten im Alter durch ein regelmässiges Einkommen abzudecken. Erst wenn das der Fall ist, sollte man über Kapitalzahlungen aus der Pensionskasse nachdenken. Es besteht auch die Gefahr, dass manche Versicherte die Risiken der Finanzmärkte ausblenden oder falsch beraten werden. Manche Finanzberater haben schliesslich ein Eigeninteresse daran, dass Privatpersonen das Kapital aus der Pensionskasse beziehen und ihnen anschliessend die Verwaltung des Vermögens überlassen.