Die Rüstungsaktie hat auch nach der Verfünffachung des Kurses noch Luft nach oben. Denn die Sicherheitslage in Europa hat sich dauerhaft verändert – und damit die Nachfrage nach Munition und Waffen.
Aktienkurscharts wie der von Rheinmetall treiben dem Betrachter Tränen in die Augen: Freudentränen bei denen, die investiert sind, und solche der Trauer bei allen, die den Anstieg verpasst haben. Jedenfalls bei Menschen, die Investitionen in Waffenhersteller nicht aus Prinzip ablehnen.
Aller Erfahrung nach geschieht es nicht oft, dass ein Unternehmen seinen Börsenwert binnen zwei Jahren verfünffacht, so wie Rheinmetall. Dass der Zuwachs danach weitergeht, ist noch seltener. Die Aktie ist daher einer der fünf Titel mit den grössten Short-Positionen im Dax. Bei Rheinmetall dürften alle, die auf dauerhaft sinkende Kurse wetten, jedoch falschliegen.
Der Kursgewinn von Rheinmetall beruht nicht auf Hoffnung, sondern auf dem Gegenteil: der Einsicht, dass insbesondere Europa künftig viel mehr Geld für die Verteidigung ausgeben muss. Dies brachte Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in seiner Regierungserklärung zum Ausdruck. «Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.»
Die Zeitenwende macht Rüstung zu dem Wachstumsgeschäft, das es ein Vierteljahrhundert lang nicht war. Nach dem Ende des Kalten Krieges stagnierten die Militärausgaben in Deutschland. Noch 2016 waren sie mit knapp 35 Mrd. € so hoch wie 1990. Im laufenden Jahr sollen sie auf das Rekordniveau von 72 Mrd. € steigen. Die deutschen Militärausgaben werden 2024 nach vielen Jahren erstmals wieder das Nato-Ziel von 2% der Wirtschaftsleistung erreichen.
Wiederaufrüstung löst Auftragsschwemme aus
Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges ist passé. Künftig dürften daher nicht zuletzt die Dividenden der Rüstungskonzerne wachsen. The Market hatte deshalb im Januar analysiert, mit welchen kotierten Fonds (ETF) Anleger in die steigende Rüstungsnachfrage investieren können, und im März auf einzelne Branchentitel hingewiesen.
Rheinmetall ist nochmals einen gesonderten Blick wert. Der anschwellende Auftragseingang lässt hier besonders stark steigende Umsätze, Gewinne und Ausschüttungen erwarten. Wer nur zwei Jahre in die Zukunft schaut, erkennt eine Bewertung auf dem Niveau der Jahre 2017 bis 2020, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis (2026).
Gut vorhersehbare Geschäftsentwicklung
Die Frage für Anleger ist vor allem, wie berechenbar der erwartete Gewinn für 2026 ist. Die Unternehmensführung von Rheinmetall jedenfalls gibt sich zuversichtlich: Sie hat die Mittelfristprognose bei der Vorstellung des Geschäftsberichts für 2023 im März nochmals erhöht. 2024 soll der Umsatz rund 10 Mrd. € erreichen, nach 7,1 Mrd. € im Vorjahr. Binnen sieben Jahren könne er sich nochmals auf 20 Mrd. € verdoppeln, stellte das Management in der Telefonkonferenz in Aussicht, berichten die Analysten von JPMorgan.
Rheinmetall-Chef Armin Papperger hat einen besseren Überblick über das künftige Geschäft als seine Kollegen in manch anderer Branche. Denn Staaten bestellen Munition, Panzer, Transportfahrzeuge und Flugabwehrsysteme mit einigem Vorlauf. Das Unternehmen nennt im Geschäftsbericht 2023 erstmals nicht nur den Auftragsbestand von 22 Mrd. €, sondern auch den Frame Backlog. Dieser umfasst die erwarteten Abrufe aus bestehenden Rahmenverträgen für das Rüstungsgeschäft und beträgt 7,9 Mrd. €. Dazu kommt der Nominated Backlog von 8,4 Mrd. € aus schriftlichen Vereinbarungen und Rahmenverträgen für das zivile Geschäft. Insgesamt summieren sich die zu bearbeitenden Aufträge auf 38 Mrd. €, fast das Vierfache des für 2024 in Aussicht gestellten Umsatzes.
Als Hauptrisiko für ihr Kursziel von 600 € pro Aktie nennen die JPMorgan-Analysten die Möglichkeit, dass Deutschland seine Rüstungsausgaben langsamer steigert als erwartet. Die Deutsche-Bank-Analysten erwähnen wegen konjunktureller Belastungen geringere europäische Verteidigungsausgaben als derzeit erwartet ebenfalls als Risikofaktor.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Verteidigungsausgaben in Europa unter die Erwartungen zurückfallen werden. Allem Druck für mehr Haushaltsdisziplin zum Trotz. Denn angesichts der akuten Bedrohung der Sicherheit des Kontinents durch Russland scheint es dringend nötig, die lange Zeit vernachlässigten Streitkräfte wieder verteidigungsbereit zu machen. An diesem Haushaltsposten kann die Politik kaum sparen, ohne die Sicherheit zu gefährden.
Zweifel wegen der hohen Aktienbewertung
Ein weiteres Kursrisiko für Rüstungsaktien ist die hohe Bewertung. Die Analysten Victor Allard und Margarida Rosas Almeida von Goldman Sachs warnten am 9. April, dass die Kauflust der Anleger für die Branche sinken könnte. Europäische Rüstungsaktien hätten ein Bewertungshoch vom Zwanzigfachen des für die kommenden zwölf Monate erwarteten Gewinns erreicht. Das bedeute einen Aufschlag von 45% zur Bewertung des europäischen Leitindex Stoxx 600; dabei habe die Branche im historischen Durchschnitt einen Bewertungsabschlag von 10% gehabt. Trotz des erwarteten Wachstums böten die Rüstungsaktien deshalb mehr Risiken als Chancen.
Allerdings wiesen die Goldman-Sachs-Analysten auch ausführlich darauf hin, dass die Wachstumsaussichten der Branche wegen der neuen Bedrohungslage viel besser sind als in den Jahren zuvor. «EU-Rüstungsaktien bieten ein überzeugendes Wachstum für ihre Bewertung – mehr als zweimal so viel Wachstum wie der US-Rüstungssektor, bei fast der gleichen Bewertung.» Nur den «Magnificent 7» (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia und Tesla) wird von 2023 bis 2025 eine höhere Wachstumsrate zugetraut als den europäischen Waffenherstellern («EU Defense»).
Nur die «Magnificent 7» wachsen schneller als «EU Defense»
Am Tag der Veröffentlichung dieser Studie fiel der Aktienkurs von Rheinmetall zeitweise 8% bis knapp unter 500 €. Dabei hatten die Goldman-Sachs-Analysten in der Studie ihre Kaufempfehlung für Rheinmetall bekräftigt und das Kursziel deutlich auf 606 € erhöht. Allein die neue Munitionsfabrik in Unterlüss könne 600 Mio. € Umsatz pro Jahr beitragen, mit einer Marge in diesem Geschäftsbereich von 30%.
Konjunktursensibles Autozuliefergeschäft verliert an Bedeutung
Die Zeitenwende hat die Natur des Geschäftsmodells von Rheinmetall verändert. Das konjunktursensible und durch den Wandel zur E-Mobilität erschütterte Autozuliefergeschäft hat stark an Bedeutung verloren. Noch 2018 war das operative Ergebnis dort dagegen noch grösser gewesen als in der Rüstungssparte.
Der fulminante Auftragseingang im Rüstungsgeschäft bringt Rheinmetall bedeutende Skaleneffekte ein. Die Ebitda-Marge ist seit 2015 von 8,8 auf zuletzt 15% gewachsen. Schon 2026 könnte sie knapp 20% erreichen, schätzen die beim Datenlieferanten S&P Capital IQ erfassten Analysten.
Auch im Branchenvergleich wirkt Rheinmetall besonders attraktiv. Die Düsseldorfer seien «eines der am besten positionierten Rüstungsunternehmen der Welt, wegen des Produktportfolios mit gepanzerten Fahrzeugen, Munition und Luftabwehrsystemen und der starken Kundenbasis in Mittel- und Osteuropa», konstatieren David Perry und Alessandro Rossi Polvara von JPMorgan.
Kurz gesagt: Rheinmetall hat genau die Waffen, die am meisten gebraucht werden – und besitzt beste Kundenbeziehungen dort, wo sie am meisten gebraucht werden.
Herausragend in einer boomenden Branche
Die französische Thales sticht in dieser Aufstellung ebenfalls positiv heraus. Das geschätzte Wachstum des Gewinns pro Aktie ist das zweithöchste nach Rheinmetall, bei deutlich niedrigerer Bewertung. Bei Thales stammt bislang allerdings nur die Hälfte des Umsatzes aus dem Rüstungsgeschäft. Die andere Hälfte erzielt der Konzern mit der zivilen Luft- und Raumfahrt. Eine ungeteilte Investition in die stark wachsende Rüstungsnachfrage sind die Titel somit nicht.
Renk wiederum glänzt mit der zweithöchsten Ebitda-Marge im obigen Vergleich. Der Augsburger Hersteller von Antrieben für Militärfahrzeuge und Kriegsschiffe hat jedoch ein deutlich weniger breit gefasstes Produktportfolio als Rheinmetall. Und ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 30 deutlich teurer als Rheinmetall mit 26 (Gewinn geschätzt für die kommenden zwölf Monate).
Rheinmetall dürfte auch im Vergleich zur eigenen, wachstumsstarken Branche in den kommenden Jahren eine der spannendsten Aktien bleiben.