Familiennachzug für Sozialhilfebezüger, Polizeikontrollen von Dunkelhäutigen, Testosteron-Grenzwerte für Athletinnen: Die Schweiz wird vom Menschenrechtsgerichtshof regelmässig gerügt. Das liegt auch am Schweizer Richter Andreas Zünd, der Menschenrechtsverstösse sieht, wo dies andere nicht tun.
Letzte Woche wurde die Schweiz gleich zwei Mal vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt. Im ersten Fall ging es darum, dass die Zürcher Stadtpolizei 2015 einen dunkelhäutigen Mann kontrolliert hatte und der Gerichtshof darin eine Diskriminierung wegen der Hautfarbe vermutete. Das zweite Mal handelte es sich um einen Gewalttäter aus dem Kanton Bern, der laut der Strassburger Instanz in einer nicht geeigneten therapeutischen Einrichtung einsitzen musste, womit die Schweiz unter anderem gegen das Verbot unmenschlicher Strafe verstossen habe. Die Woche vorher kassierte die Schweiz eine Rüge wegen der Verjährung in einem Asbest-Fall.
Immer mit dabei, wenn es um einen Schweizer Fall am Menschenrechtsgerichtshof geht, ist Andreas Zünd, «unser Mann in Strassburg», wie er in den Medien auch schon bezeichnet wurde. Kritische Stimmen sprechen dagegen von «unserem Aktivisten in Strassburg». Denn keiner verurteilt die Schweiz zuverlässiger als Andreas Zünd.
Wie aktivistisch darf ein Richter sein?
Zünd ist seit 2021 als Schweizer Richter am Strassburger Gerichtshof tätig. Bevor er von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt wurde, als einer von drei von der Schweiz vorgeschlagenen Kandidaten, war er 17 Jahre lang Bundesrichter gewesen. In Lausanne zählte der SP-Mann zu den führenden Stimmen der «Internationalisten» und war mit Richterkollegen in legendäre Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht verwickelt und zu der Frage, wie aktivistisch ein Richter sein darf.
In seiner neuen Funktion prüft der 67-jährige Zünd am Menschenrechtsgerichtshof unter anderem die Urteile, die von der Schweizer Justiz und in letzter Instanz vom Bundesgericht gefällt und nach Strassburg weitergezogen werden. Dabei zeigt er sich mit der Leistung der Schweiz bzw. jener seiner ehemaligen Richterkollegen nur selten zufrieden. An seiner früheren Wirkungsstätte, dem Bundesgericht, sorgt Zünd damit nicht gerade für Freude. Ihn scheint das nicht anzufechten: Jedes Strassburger Urteil sei ein Gewinn für die Schweiz, weil es das Recht voranbringe, sagte er verschiedentlich in Interviews. «Meine Antwort kann auch als Aufruf an die schweizerischen Gerichte verstanden werden, die Rechtsprechung des Gerichtshofs nahe zu verfolgen und zur Anwendung zu bringen.»
Und aufrufen tut er sehr oft. Im letzten Dezember war es beispielsweise der Umgang der Zürcher Polizei mit 1.-Mai-Demonstranten, den Zünd als klar menschenrechtswidrig erachtete – im Unterschied zu anderen Strassburger Richtern, die Vorbehalte äusserten und keinen so strengen Massstab anlegen mochten wie ihr Schweizer Kollege. In einem anderen jüngeren Fall ging es um sozialhilfeabhängige Eritreer, die in der Schweiz vorläufig aufgenommen worden waren. Das Bundesverwaltungsgericht erlaubte ihnen nicht, die Familie in die Schweiz nachzuziehen, weil das Ausländergesetz den Familiennachzug bei Sozialhilfeabhängigkeit ausschliesst. Damit habe die Schweiz das Recht der Beschwerdeführer auf Familienleben verletzt, hiess es aus Strassburg.
Nun kann man von keinem der 47 Richter am EGMR erwarten, dass er stets die Haltung des eigenen Landes verteidigt; die Richter urteilen unabhängig. Eine andere Frage ist, ob ein Richter auch in Fällen, wo die Meinungen in der Richterschaft auseinandergehen, so gut wie immer gegen das eigene Land entscheiden muss – wie Zünd das tut.
Mit 4 zu 3 Stimmen gegen die Schweiz
So sorgte er beispielsweise im Fall der südafrikanischen Sportlerin Caster Semenya mit seiner Stimme dafür, dass es eine 4:3-Mehrheit gab und die Schweiz eine Rüge kassierte. Das Bundesgericht hatte den Entscheid des in Lausanne ansässigen Internationalen Sportschiedsgerichts gestützt, wonach Athletinnen mit zu hohem Testosteronwert diesen medikamentös senken müssen, wollen sie in der Kategorie «Frauen» an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Das Bundesgericht argumentierte damit, dass es um Fairness im Sport gehe. Zünd sah das anders: Semenya sei von der Schweiz diskriminiert und ihre Verfahrensrechte verletzt worden, befand er zusammen mit drei seiner Kollegen. Das Eidgenössische Justizdepartement akzeptierte das Urteil nicht und beantragte, den Fall von der Grossen Kammer des Strassburger Gerichtshofs überprüfen zu lassen. Dort ist er derzeit hängig.
Auch bei der Beschwerde einer Genfer Gewerkschaft betreffend die Einschränkung der Versammlungsfreiheit während der Corona-Zeit war es Zünd, der für eine 4:3-Mehrheit und damit für eine Rüge an die Adresse der Schweiz sorgte. Die Schweiz zog das Urteil vor die Grosse Kammer, die später zu einem anderen Ergebnis kam. Bei einer weiteren Beschwerde ging es um einen Algerier, der sich illegal in Genf aufhielt und wegen Diebstahls in einem Strafverfahren steckte. Die Schweizer Justiz hatte dem Mann den Einsatz eines Pflichtverteidigers verweigert; der Betreffende war pro bono von einem Anwalt vertreten worden. Vier der sieben Richter sahen darin kein Fehlverhalten der Schweiz. Zünd zählte zu den anderen drei. Er reichte eine abweichende Position zum Urteil ein, in der er der Schweiz vorwarf, sie habe gegen das Recht des Algeriers auf ein faires Verfahren verstossen und damit eine Menschenrechtsverletzung begangen.
In anderen Fällen hingegen, wo man eine abweichende Position von Zünd erwarten würde, fällt sie aus. So etwa im Fall von Max Beeler. Der Appenzeller hatte in Strassburg erfolgreich gegen die Schweiz geklagt, weil er als Witwer gegenüber den Witwen bei der Hinterlassenenrente benachteiligt wurde. Die Schweiz muss nun dafür sorgen, dass beide Geschlechter, Witwen wie Witwer, gleich behandelt werden. Man mag das Urteil richtig finden. Allerdings hat die Schweiz das erste Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention, in dem es um Sozialleistungen geht, ganz bewusst nicht ratifiziert. Die Schweizer Hinterlassenenleistungen fallen deshalb nicht in das Zuständigkeitsgebiet des EGMR. Es waren mehrere andere Richter, die darauf hinwiesen, dass der Gerichtshof seine Kompetenzen gegenüber der Schweiz überschreite und den Willen des Landes, sich rechtlich nicht zu binden, missachte. Von Zünd war kein solcher Protest zu vernehmen.
Von der NZZ nach einer Einschätzung seiner Rolle gefragt, verweist Zünd auf die Statistik, wonach im Jahr 2023 245 Beschwerden gegen die Schweiz als unzulässig erklärt oder von der Geschäftsliste gestrichen worden seien.
Zünd und die Klimaseniorinnen
Andreas Zünd kann noch drei weitere Jahre als Schweizer Richter in Strassburg tätig sein. Er wird damit voraussichtlich auch über die Klage der Schweizer Klimaseniorinnen mitentscheiden, die vor der Grossen Kammer hängig ist. Die mit Greenpeace verbandelten Seniorinnen klagen gegen die Schweiz, weil diese zu wenig gegen die Klimaerwärmung unternehme und sie als ältere Frauen speziell darunter litten. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob Klimapolitik von der Politik oder von der Justiz gemacht werden soll. Das Bundesgericht hatte ihre Beschwerde abgewiesen.
In Zünd könnten die Klimaseniorinnen dagegen einen Fürsprecher gefunden haben. So bezeichnet der Richter die Klimaveränderung als die grösste Herausforderung mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen. «Zuerst denkt man, das würde die Allgemeinheit und nicht den Einzelnen betreffen. Aber am Ende kann doch jeder und jede Einzelne betroffen sein. Wie der EGMR damit umgeht, lässt sich noch nicht sagen. Dieser Prozess ist in vollem Gange», meinte er in einem Interview.
Zünd selber ist davon überzeugt, dass man nun «alle Energie auf die Bekämpfung des Klimawandels verwenden» müsse. «Dazu können Richterinnen und Richter ein wenig, aber leider nicht allzu viel beitragen. Es kommt auf die Gesellschaft an.» Die Schweizer Klimaseniorinnen jedenfalls können zuversichtlich sein, dass Zünd das Seine beitragen wird. Es wäre eine grosse Überraschung, wenn er nicht auch in ihrem Fall die Schweiz verurteilen würde.