Das erste Hochhaus der Schweiz steht in Lausanne. Die Cité Bel-Air Métropole ist noch heute ein visionäres Projekt modernen Städtebaus
Ein Kino mit 1600 Plätzen, dazu Restaurants, Cafés und Bars mit nochmals gegen 1000 Sitzplätzen, rund 70 Wohnungen und zahlreiche Büroräume: Die Cité Bel-Air Métropole in Lausanne war bei ihrer Eröffnung 1932 eine kleine Stadt in der Stadt. Die Tour Bel-Air, die den Baukomplex überragt, gilt zudem als erstes Hochhaus der Schweiz. Sie wurde zu einem Wahrzeichen Lausannes, dem einzig die Kathedrale das Wasser reichen kann. Auch nach über neunzig Jahren hat die Überbauung nichts von ihrer Faszination eingebüsst. Seit der sorgfältigen Sanierung kommen die Qualitäten wieder zur Geltung.
Der Nutzungsmix erinnert an das fast gleichzeitig erstellte Rockefeller Center in New York. Auch die Konstruktion hat ihre Vorbilder in den USA: ein Stahlskelett, das mit Mauerwerk ausgefacht und mit Naturstein verkleidet ist. Die Entwicklung dieser Skelettkonstruktion gehörte – zusammen mit der Erfindung der Zentralheizung und des absturzsicheren Lifts – zu den drei Voraussetzungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Chicago den Bau der ersten Wolkenkratzer ermöglichten.
Aus einem amerikanischen Storyboard könnte auch die Entstehungsgeschichte der Cité stammen. Bereits Mitte der 1920er Jahre wälzte der Lausanner Ingenieur und Geometer Alfred Cottier Pläne für eine Überbauung; 1929 lag die Bewilligung vor. Weil Cottier in Lausanne das Kapital nicht auftreiben konnte, wandte er sich an den Zürcher Unternehmer Eugen Scotoni. Dieser übernahm mit seinem Bauunternehmen alle Rechte und Pflichten des Bauvorhabens.
Scotoni hatte eine amerikanisch anmutende Tellerwäscherkarriere gemacht: Er stammte aus einer Südtiroler Baumeisterfamilie, die 1889 aus Wien nach Zürich gekommen war. In jungen Jahren musste er den kranken Vater als Steinhauer ersetzen. In Abendkursen bildete er sich zum Vorarbeiter weiter. Mit zwanzig gründete er 1893 seine Baufirma und prägte damit die rasant wachsende Stadt Zürich.
Auch gehört Scotoni zu den ersten privaten Telefonabonnenten und den ersten Autobesitzern Zürichs. Er interessierte sich für armierten Beton und setzte schon früh Baumaschinen ein. Zusammen mit seinem Schwager stieg er 1909 in den Bau von Kinosälen ein und eröffnete 1928 mit dem «Apollo» das grösste Kino der Schweiz.
Inspiration Amerika
In den späten 1920er Jahren unternahm Scotoni mit seiner Familie eine Studienreise durch die USA. Das schien vor allem seinen Sohn Eugen junior beeindruckt zu haben. Der Ingenieur brachte aus Amerika drei Ideen mit: das Turmhaus, das Stahlskelett und den Typus der grossen städtischen Immobilie mit unterschiedlichen Nutzungen. Eugen junior hielt beim Projekt in Lausanne die Fäden in der Hand. Das letzte Wort hatte indes immer der Vater.
Kaum hatte Scotoni das Projekt von Cottier übernommen, engagierte er als Architekt Alphonse Laverrière, ein einflussreiches Mitglied der Baukommission und Professor an der ETH Zürich. Er hatte seine Ausbildung an der Pariser École des Beaux-Arts absolviert und war einer der renommiertesten Architekten seiner Zeit.
Doch Scotoni engagierte nicht nur den besten Architekten, sondern mit Henri Vallotton auch den besten Anwalt. Um für Scotoni die Kastanien aus dem Feuer zu holen, pflegte er den diskreten Kontakt zu den Lausanner Behörden. Im Mai 1930 organisierte er für den Stadtpräsidenten und den Polizeivorstand einen Ausflug nach Zürich. Um die Behörden für sich zu gewinnen, wollte Scotoni mit seinem «Apollo» den Politikern die Magie eines grossen Kinosaals vorführen. Dabei ging es ihm wohl weniger um das Kino als vielmehr um einen anderen Bauteil: ein Hochhaus.
Nachdem erste Skizzen eher beiläufig aufgetaucht waren, stellte Laverrière im Frühjahr 1930 das Turmprojekt erstmals der Öffentlichkeit vor. Scotoni schob die Idee zum Turm dem Architekten zu, doch gilt es als sicher, dass der Turm ein Wunsch des Investors war. Doch ein Hochhaus, von einem Auswärtigen gebaut, das wäre brisant gewesen. Da war der einheimische, gut vernetzte Laverrière als Urheber doch besser. Um für alle Fälle gewappnet zu sein, liess Scotoni zwei Projekte ausarbeiten: eines mit und eines ohne Turm.
Der Turm spaltet die Stadt
Tatsächlich entbrannte um den Turm eine Kontroverse: Er zerstöre die Silhouette der Stadt und beeinträchtige die Kathedrale. Anwalt Vallotton zog im Hintergrund die Fäden, um Wirtschaftsverbände und Gemeinderäte für das Projekt zu gewinnen. Als das Stadtparlament Anfang Juni 1931 für den Turm votierte, waren die Bauarbeiten längst im Gang. Ein weiterer Rekurs beim Kanton veranlasste die Stadt im Sommer 1931, die Arbeiten einstellen zu lassen.
Mit dem Hinweis auf die drohende Entlassung einiger hundert Arbeiter verlangten Anwalt Vallotton und die Eisenbaugesellschaft Zürich, die das Stahlskelett errichtete, einen sofortigen Entscheid. Ende September gab die Kantonsregierung dem Projekt definitiv grünes Licht.
So gross die Einflüsse aus den USA auch waren, die Topografie des Bauplatzes hätte lausannerischer kaum sein können. 14 Meter beträgt die Höhendifferenz zwischen der Rue de Genève im Flon-Quartier und der höher gelegenen Place Bel-Air. Das Flon-Quartier, wo heute das Leben pulsiert, war damals ein als minderwertig geltendes Lager- und Gewerbequartier.
Dementsprechend gestaltete Laverrière den Sockelbau wie ein Gewerbehaus: schmucklos, mit eng aneinandergereihten Fenstern in einer grauen Putzfassade. Auf das so geschaffene Nullniveau auf der Höhe von Place Bel-Air und Grand-Pont setzte der Architekt ein symmetrisches Gebäude, das sich auf die Brücke und die gegenüberliegende Place Saint-François ausrichtet.
Der Architekt nutzte diese Topografie und baute in den vier Untergeschossen den grossen Kinosaal ein. So blieb im Erdgeschoss Platz für grosszügige, mit einem Netz von Passagen und Höfen miteinander verbundene Laden- und Gastronomielokale. In den Obergeschossen und im Turm waren Wohnungen unterschiedlicher Grösse untergebracht. In der Turmspitze bot die «Crèmerie» einen Blick über Lausanne. Die Fassaden bestehen hauptsächlich aus Savonnières-Naturstein, der dem Gebäude ein helles Antlitz verleiht.
Im alten Glanz
Das Kino diente bis 1988 seinem ursprünglichen Zweck. Vier Jahre später wurde es als Veranstaltungssaal Salle Métropole wiedereröffnet. Der 2015 sanierte Saal ist unter anderem der Sitz des Orchestre de chambre de Lausanne. Nach Plänen des Lausanner Büros CCHE Architecture et Design wurde bis 2016 der übrige Gebäudekomplex grundlegend saniert. Trotz Korrosionsschäden durch eindringendes Wasser waren die Fassaden in erstaunlich gutem Zustand. Die originale Ausstattung der Wohnungen war in weiten Teilen noch erhalten und wurde denkmalgerecht saniert. Die lärmbelasteten Bereiche, insbesondere gegen die Rue des Terraux, dienen heute als Büros.
Noch bevor die ganze Überbauung fertig war, wurde am 26. Dezember 1931 der Kinosaal mit einem grossen Fest eröffnet. Drei Monate später war auch der Turm fertig. Finanziell war die Überbauung für Scotoni keine Erfolgsgeschichte. Als die Banken als Folge des Börsenkrachs an der Wall Street die Kredite kündigten, musste Scotoni das Projekt ohne Banken stemmen. Dies gelang ihm vor allem dank der Genfer Lebensversicherungsgesellschaft.
Waren die Gesamtkosten zunächst auf 6 Millionen Franken veranschlagt, bezifferte sie Scotoni auf 8 Millionen. In einer Baudokumentation war von rund 15 Millionen die Rede. Fünf der sieben Turmwohnungen blieben lange leer. 1938 ging die Société Bel-Air Métropole in Konkurs, die Genfer Lebensversicherungsgesellschaft übernahm den Komplex.
Das Abenteuer des Zürchers Scotoni in Lausanne war damit zu Ende. Jahrzehnte später stellte die Übernahme der «Genevoise» durch die Zürich Versicherungs-Gesellschaft und die vollständige Integration 2006 die Achse Zürich–Lausanne wieder her.