Der Vizepräsident der Schweizerischen Nationalbank, Martin Schlegel, steht zwar für eine neue Generation. Dennoch verkörpert er die Erfolgsfaktoren der Schweizer Geldpolitik.
Martin Schlegels steile Karriere bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB) beginnt mit einer Absage. Als sich der junge Ökonom im Frühling 2003 nach Abschluss seines Masterstudiums bei der SNB bewirbt, zieht er den Kürzeren. Die ausgeschriebene Stelle in der Statistik-Abteilung geht an eine Studienkollegin. Doch zwei Wochen später klingelt bei Schlegel doch noch das Telefon. Die SNB offeriert dem gescheiterten Bewerber – quasi als Trostpreis – ein Praktikum, und zwar in der Forschungsabteilung. Sein damaliger Chef: Thomas Jordan.
Wichtigster Personalentscheid für die Schweiz
Niemand weiss, wie die Karriere des im Zürcher Kreis 6 aufgewachsenen und an der Universität Zürich ausgebildeten Schlegel verlaufen wäre, hätte er bei den SNB-Statistikern einen besseren Eindruck hinterlassen. Doch mit einiger Wahrscheinlichkeit war es ein Glücksfall, dass er die Stelle nicht bekam und fortan ein Jahr lang damit beschäftigt war, Präsentationen für Jordan vorzubereiten und ihn bei Lehraufträgen an den Universitäten Zürich und Bern zu unterstützen. Denn in der Person seines damaligen Chefs hatte er einen treuen Mentor gefunden.
Seit einer Woche ist bekannt, dass Jordan auf Ende September die SNB verlassen wird, nach 17 Jahren im Direktorium, davon 12 als Präsident. Die Chancen stehen gut, dass ihn sein früherer Trainee ablösen wird. Denn Schlegel ist der Bank seit dem Praktikum treu geblieben und bis ins Vizepräsidium aufgestiegen. Als Nummer zwei ist er der Kronfavorit im Rennen um Jordans Nachfolge. Entschieden ist aber noch nichts bei dieser für die Schweizer Wirtschaft wichtigsten Personalie seit langem. Der Ball liegt beim SNB-Bankrat, der dem Bundesrat einen Vorschlag unterbreiten muss.
In Medienberichten über Schlegel ist oft zu lesen, er sei ein Ziehsohn von Jordan. An diesem Etikett trägt der SNB-Vizepräsident eine gewisse Mitschuld. In seinem ersten Interview mit dieser Zeitung vor bald fünf Jahren meinte Schlegel einst scherzend, er habe bei der SNB als Praktikant von Jordan begonnen – und er sei dies irgendwie immer noch. Hintergrund der Aussage war damals, dass er kurz zuvor ins erweiterte Direktorium und zu Jordans Stellvertreter im ersten Departement gewählt worden war. Seither wird ihm das Zitat medial um die Ohren gehauen.
Parallelen und Unterschiede zu Jordan
Wer in Schlegel aber vor allem einen Zögling oder gar ein Abbild Jordans sieht, wird ihm nicht gerecht. Gewiss, die zwei Geldpolitiker teilen viele Gemeinsamkeiten: Beide sind blitzgescheite Ökonomen, beide verfügen über ein immenses geldtheoretisches Wissen, beide haben ihr bisheriges Berufsleben ausschliesslich in der SNB verbracht und dabei Erfahrungen in allen drei Departementen der Bank gesammelt, und beide machen sich stark – dies wohl die volkswirtschaftlich wichtigste Parallele – für eine Geldpolitik, die sich klar am Ziel der Preisstabilität ausrichtet.
Geldpolitisch stünde eine Wahl von Schlegel zum Notenbankchef denn auch für Kontinuität und eine Beibehaltung der Stabilitätskultur der SNB. So deutet nichts darauf hin, dass er die Richtung gross ändern würde. Hierzu gibt es auch wenig Gründe. Die SNB – und die Schweiz insgesamt – ist in den vergangenen Jahren gut gefahren mit ihrer vergleichsweise strengen Inflationskontrolle, dem Fokus auf ein eng definiertes Mandat und der Abwehr politischer Versuche, die Notenbank und deren Bilanz für allerlei sachfremde Zwecke einzuspannen.
Doch ungeachtet solcher Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede. Der wichtigste: Schlegel vertritt eine neue und innerhalb der SNB immer wirkungsvoller werdende Generation. Damit ist nicht primär das Alter gemeint; der 1976 geborene Schlegel wäre im Fall seiner Ernennung zum SNB-Präsidenten nur ein Jahr jünger als der 1963 geborene Jordan zum Zeitpunkt seiner Wahl zum Notenbankchef. Der Unterschied zeigt sich vielmehr in der Persönlichkeit und Führung: Schlegel ist weniger formell, weniger an Hierarchien interessiert, ungezwungener, partizipativer im Führungsstil – und wohl auch zugänglicher.
Humorvoll und kommunikativ
Wer sich mit ehemaligen Mitarbeitern von Schlegel – viele von ihnen mittlerweile ausserhalb der SNB tätig – unterhält, bekommt fast nur Positives zu hören. Von einem guten Motivator und Kommunikator ist die Rede, von einem kreativen Geist und einem Pragmatiker, der auch einmal etwas Neues ausprobiere, ohne die Sache – wie bei der SNB bisweilen der Fall – zuvor in zahllosen Gremien zu zerreden. «Wenn jemand aus dem Team mit einer überzeugenden Idee kam, übernahm er sie und verteidigte sie gegen oben», sagt einer, der mit ihm im Devisenhandel arbeitete. «Das macht einen guten Chef aus.»
Der Eindruck früherer Kollegen bestätigt sich in persönlichen Treffen. Sind Gespräche mit Notenbankern oft eine etwas spröde Angelegenheit, ist Schlegel ein sehr humorvoller Mensch. Er baut schnell eine Verbindung zu Menschen auf. Anknüpfungspunkte für Unterhaltungen, die nichts mit Inflation oder Zinsen zu tun haben, gibt es viele. Etwa die Tatsache, dass Schlegel noch bis vor acht Jahren als Bassgitarrist in Party- und Rockbands spielte. Oder das Faible des Vegetariers für Design und sein Job als Freelance-Grafiker während der Zeit am Literargymnasium Rämibühl und an der Universität Zürich.
Fürs Musizieren und Gestalten dürfte ihm derzeit aber wenig Zeit bleiben. Das hat nicht nur mit der Arbeit bei der SNB zu tun. Zu Hause warten auch zwei Töchter und ein Sohn im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. Kommt hinzu, dass auch seine Gattin Nicole Brändle mit beiden Beinen fest im Berufsleben steht, künftig wohl mehr denn je. So ist die 44-jährige Zürcherin – auch sie eine Ökonomin, die einst bei der SNB arbeitete – im Januar zur neuen Direktorin von Hotellerie Suisse, dem Interessenverband der Hotelbranche, gewählt worden. Sie tritt die Führungsposition im April an.
Ein krisenerprobter Geldpolitiker
Den Umgang mit knapper Zeit dürfte Schlegel gewohnt sein. So fällt auf, dass in seinen Zuständigkeitsgebieten selten ruhige Zeiten herrschten. Mehr noch, er scheint in seinem Berufsleben krisenhafte Entwicklungen geradezu angezogen zu haben. Wo immer er in der Verantwortung stand, brannte es lichterloh. Wobei Korrelation bekanntlich nicht dasselbe ist wie Kausalität. Will heissen: Es hatte nicht mit seiner Person, sondern mit den weltwirtschaftlichen Umständen zu tun, dass er zumeist mit der Bewältigung von Krisen absorbiert war. Vier Beispiele dazu:
- Im Jahr 2007 brach die Krise am weltweiten Geldmarkt aus. Die Banken liehen einander kaum noch Geld, weil niemand wusste, wie viele toxische Papiere das Gegenüber in seinen Büchern gelagert hatte. Schlegel arbeitete damals in der Geldmarktabteilung der SNB und musste dafür sorgen, dass der Markt wieder zu Liquidität kam. Er war massgeblich beteiligt an der Entwicklung von neuen Instrumenten wie den sogenannten SNB-Bills. Solche Schuldpapiere spielen heute zur Durchsetzung des Leitzinses erneut eine wichtige Rolle.
- Im Zuge der Finanzkrise wertete sich der Franken immer mehr auf, zum Leidwesen der Exporteure. 2009 begann die SNB verstärkt, mit Devisenkäufen gegen die Aufwertung anzukämpfen. In jenem Jahr übernahm Schlegel die Leitung der Devisenabteilung. Er war verantwortlich für milliardenschwere Deviseninterventionen und ab September 2011 auch für die Verteidigung des neu eingeführten Mindestkurses von 1.20 Franken pro Euro. Dazu musste sein Team im Nu einen weltumspannenden 24-Stunden-Betrieb aufbauen.
- Im Jahr 2015 kam die SNB zum Schluss, dass der Mindestkurs wegen der anhaltenden Euro-Schwäche nicht mehr nachhaltig war. Am 15. Januar wurde er daher aufgehoben. Schlegel war zuvor als Einziger der Devisenabteilung in den Geheimplan eingeweiht worden. Er musste mit seinem Team die zur Verteidigung des Mindestkurses aufgebaute Festung innert weniger Stunden wieder abbauen, ohne dass dies am Markt jemand merkte. Geheimhaltung und Rückbau funktionierten; niemand erahnte den baldigen Franken-Schock.
- Im August 2022 übernahm Schlegel nach seiner Wahl ins dreiköpfige SNB-Direktorium die Leitung des zweiten Departements. Zu dessen Aufgaben gehört unter anderem die Finanzstabilität und somit der kritische Blick auf die Grossbanken. Zeit zum Warmlaufen gab es nicht. Schon bei Schlegels erster Sitzung ging es um die Credit Suisse (CS). Im Oktober verschärfte sich die Lage der CS, und im März 2023 kam es zur Übernahme durch die UBS. Schlegel spielte bei der turbulenten Rettungsübung eine Schlüsselrolle innerhalb der SNB.
An Krisenerfahrung mangelt es dem promovierten Ökonomen somit nicht. Etwas Ruhe gab es höchstens zwischen 2016 und 2018, als er die SNB-Niederlassung in Singapur leitete. Eigentlich wollte er mit seiner Familie noch etwas länger im Stadtstaat bleiben, wo sein jüngstes Kind zur Welt kam. Die Lebensqualität und selbst das feuchtheisse Klima gefielen ihm; und seine Frau nutzte die Zeit, um einen Executive-MBA zu absolvieren. Doch erneut rief die SNB-Zentrale an, mit dem Angebot, eine Vakanz im erweiterten Direktorium zu füllen.
Weniger als vier Jahre später, im Mai 2022, wurde Schlegel bereits ins erlauchte Dreiergremium an der SNB-Spitze gewählt. Dass er damals auch Vizepräsident wurde, kam insofern überraschend, als nach den Regeln der Anciennität eigentlich die Chefin des dritten Departements, Andréa Maechler, an der Reihe gewesen wäre. Doch Maechler genoss inner- und ausserhalb der SNB weniger Rückhalt. Auch der Bundesrat als Wahlgremium setzte lieber Schlegel als Maechler auf die Pole-Position für die Nachfolge von Jordan.
«Kein automatisches Erbrecht»
Maechler quittierte die Nichtberücksichtigung mit der Kündigung. Ihr Ersatz, der vom amerikanischen Fed zur SNB gestossene Antoine Martin, hat den Job erst im Januar angetreten und dürfte fürs Präsidium kaum infrage kommen. Der Zeitpunkt von Jordans Rücktritt ist diesbezüglich denn auch suboptimal. So muss neben der Wahl eines neuen Präsidenten oder einer Präsidentin zwangsweise auch ein drittes Mitglied für das Direktorium rekrutiert werden. Neben Martin kommt also bald ein weiterer Neuling ins Gremium, und Schlegel wird mit knapp zwei Jahren bereits zum amtsältesten Mitglied.
Ist das ein Handicap für Schlegel? Ja, meint das SNB-Observatory, eine Gruppe von drei Ökonomen, die regelmässig kritische Berichte zur SNB veröffentlicht. Die Frage des Präsidiums dürfe erst geklärt werden, wenn das dritte Direktoriumsmitglied feststehe, fordern sie; es dürfe kein automatisches «Erbrecht» des Vizepräsidenten geben. Schlegel sei zwar ein erfahrener Geldpolitiker, doch es fehle ihm die Gravitas, die es für dieses Amt brauche, etwa im Dialog mit der Regierung, Politikern oder internationalen Finanzorganisationen wie dem Währungsfonds.
Personen, die mit Schlegel zusammengearbeitet haben, halten diesem Argument entgegen, dass man in die Funktion eines Notenbankchefs hineinwachsen müsse. Das sei bei Jordan, der vor zwölf Jahren noch deutlich weniger Gravitas hatte als heute, gleich gewesen. Dass Schlegel der Rollenwechsel gelingen würde und er aus dem grossen Schatten seines Vorgängers, der die Kommunikation der SNB immer stärker monopolisierte, heraustreten könnte, wird mehrheitlich bejaht. Der Bankrat dürfte wenig Gründe haben, jemand anders vorzuschlagen.