Der russische Staat versucht die Anteilnahme am Tod des Oppositionspolitikers klein zu halten. Angesichts der harten Unterdrückung bringen die Trauerbekundungen die Unzufriedenheit an die Oberfläche, ohne dem Regime gefährlich werden zu können.
Die Lubjanka in Moskau ist ein bedrückender Ort, auch an einem sonnigen Wintertag mit viel Schnee und nur leichtem Frost. Einschüchternd wuchtig dominiert das ockerbraune Gebäude des Geheimdienstes FSB den Platz, der das ungebrochene Erbe der sowjetischen Gewaltherrschaft und das Gedenken daran gleichermassen symbolisiert.
An diesem Samstag unterstreichen Polizeibusse, ein Mannschaftstransporter der Nationalgarde und zwei Dutzend Polizisten – teilweise in Uniform, teilweise in Zivil – diese Gleichzeitigkeit von Unterdrückung und Auflehnung dagegen auf besondere Weise. In dem kleinen Park am Platz liegt ein Felsbrocken von den Solowezker Inseln im Weissen Meer, wo das sowjetische Lagersystem seinen Anfang genommen hatte. Das Mahnmal für die Opfer der politischen Repressionen dient jetzt denjenigen als Gedenkort, die um den im Straflager des heutigen Russland umgekommenen Alexei Nawalny trauern.
Trauernde werden gefilmt
Es sind keine Menschenströme, die aus der Unterführung kommen und sich hinten anstellen. «Wie in der Sowjetzeit, da fragten wir in der Schlange auch, wer der letzte sei», sagt ein älterer Mann mit Schaufel in der Hand und in Zeitungspapier eingewickelten Blumen. Junge und Ältere, Frauen und Männer, gar ganze Familien mit Kindern stellen sich stumm in die Reihe, die um die Mittagszeit schnell anwächst. Rote und weisse Nelken oder Rosen haben die meisten mitgebracht.
Wo es vom Strassenrand zum Denkmal geht, stehen zwei Polizisten. In kleinen Gruppen von drei bis vier Personen lassen sie die Trauernden zu dem Gedenkstein durch. Ein Mann in Zivil mit Gesichtsmaske filmt jeden, der dorthin geht. Immerhin nehmen sie keine Personalien auf, wie es aus anderen russischen Städten gemeldet wird.
«Den Pass habe ich dabei», sagt Aljona, eine Frau mittleren Alters im dunklen Mantel mit Kapuze, die mit einem jungen Mann gekommen ist, vermutlich ihrem Sohn. Sie halte sich ans Gesetz, tue nichts Verbotenes. Sollen sie ihre Daten doch aufnehmen: «Ich habe keine Angst.» Aber so ganz traut sie der Sache nicht. Sie trauert um Alexei Nawalny. «Er war ein ungewöhnlicher Mensch», sagt sie, sein Tod sei ein grosser Verlust. Ob sie ihn politisch unterstützt habe, will sie nicht sagen. «Überlegen Sie selbst – warum wäre ich sonst hier?», meint sie und nimmt zur Sicherheit die Visitenkarte des Korrespondenten an sich.
Unzimperliche Festnahmen
Auf dem Solowezker Stein liegt ein Berg von Blumen. Einige haben Kerzen aufgestellt, die eine oder andere beschriftete Karte ist zu sehen. Eigentlich lägen mindestens doppelt so viele Nelken und Rosen hier. Aber Freitagnacht sperrte die Polizei kurz den Platz ab, und unbekannte Männer in dunkler Kleidung räumten das spontane Mahnmal für Nawalny rücksichtslos ab. Die Blumen, die Kerzen, Bilder und Schriften stopften sie in einen dunklen Abfallsack.
Auch jetzt drängt ein Polizist zur Eile. Am Ausgang, wo es zur nächsten Unterführung und zur U-Bahn geht, bleiben einige stehen und schauen noch einmal auf die stille Prozession, hinter der sich das FSB-Gebäude aufbaut. «Gehen sie in die Metro, bleiben sie hier nicht länger stehen», heisst es aus einem Lautsprecher. An der gegenüberliegenden Seite des Parks ist die Warteschlange auf das Doppelte angewachsen.
Praktisch gleichzeitig geht es an einem zweiten Gedenkort in Moskau, der «Wand der Trauer» für die Opfer staatlicher Repressionen, unzimperlicher zu, wie russische Journalisten berichten. Auch dorthin kommen stetig Menschen, die mit einer Nelke für Nawalny ein Zeichen setzen wollen. Aber Polizisten verscheucht die Umstehenden; sie behinderten die Passanten, behaupten sie, obwohl es gar keine Passanten dort gibt. Später zeigen Videoaufnahmen in Telegram-Kanälen willkürliche Festnahmen, der Vorwurf lautet «Nichtbefolgen polizeilicher Anweisungen».
Unzufriedenheit wird sichtbar
Zu bis jetzt mehr als hundert Festnahmen kam es seit Freitagabend in ganz Russland an den Orten, wo Menschen für Nawalny Blumen niederlegten. Die Anteilnahme am Tod des Oppositionspolitikers und bekanntesten politischen Gefangenen enerviert die Behörden spürbar. In dem durch die repressiven Gesetze ganz eng gesteckten Rahmen tragen sie Unzufriedenheit an die Oberfläche. So bescheiden die Menschenmengen sind, sie sind ein Zeichen des Mitgefühls in einer durch staatliche Einschüchterung und Unterdrückung und durch den Krieg gegen die Ukraine verhärteten Zeit.
Im Schock über die Nachricht vom Tod Nawalnys überwinden viele ihre Angst und verlassen für einen Moment den privaten Rückzugsraum. In der Warteschlange spüren sie: Sie sind nicht die einzigen, die so denken. In einer seiner Reden vor Gericht sagte Nawalny, der Staat wolle das Gefühl vermitteln, wer aufbegehre, sei ganz allein. «Gebt nicht auf, handelt und fürchtet euch nicht» – das war seine Botschaft, auch für den Fall seines Ablebens.
Als er das sagte, wusste er nicht, dass in den darauffolgenden drei Jahren von der ohnehin schwachen demokratischen Opposition kaum noch etwas übrig sein würde. Nawalny blieb zwar vom Straflager aus für Regimegegner im Exil und in Russland eine Quelle von Kraft und Inspiration. Politisch Einfluss nehmen konnten er und seine Mitstreiter nicht mehr.
Rätsel um Leichnam und Todesursache
Die Politologin Tatjana Stanowaja prophezeite schon in einer ersten Reaktion auf die Nachricht vom Tod Nawalnys neue Repressionswellen gegen dessen Anhänger und Unterstützer – der Staat hat Nawalny, seinen politischen Gegner, zum Extremisten und Terroristen gestempelt und jegliches Interaktion mit ihm kriminalisiert. Niemand weiss, wofür die Polizei die Videoaufnahmen von den Trauernden nutzen wird.
Am Samstag bestätigte Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch den Tod ihres Chefs. «Nawalny wurde umgebracht», sagte sie in einem Video. Nawalnys Mutter und Anwalt waren am Samstag nach Charp an den Polarkreis, in die Strafkolonie IK-3 des Gebiets der Jamal-Nenzen, gereist. Dort wurde ihnen die Todesnachricht übergeben. Nawalny sei dem «Syndrom des plötzlichen Todes» erlegen. Der Leichnam befinde sich in der Leichenhalle des Ermittlungskomitees in der Regionalhauptstadt Salechard zur gerichtsmedizinischen Expertise, teilte man ihnen mit. Dort jedoch scheint er auch nicht zu sein. Die Behörden werden alles dafür tun, um zu verhindern, dass das Grab Nawalnys zur Pilgerstätte wird.