Serbien modernisiert gezielt seine Streitkräfte. Nun soll auch der Personalbestand aufgestockt werden. Über die wahren Beweggründe für die Massnahme gehen die Meinungen auseinander.
Ab kommendem Jahr sollen serbische Männer einen obligatorischen Wehrdienst von 75 Tagen leisten. Bei der Ankündigung der Neuerung vor einigen Tagen erklärte Präsident Aleksandar Vucic, dass Serbien niemanden angreifen wolle. Man müsse aber in der Lage sein, jene abzuschrecken, die das Land bedrohten. Serbien brauche deshalb eine starke Armee. Ein entsprechender Gesetzesentwurf muss vom Parlament noch angenommen werden. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist das nur eine Formsache.
Serbien modernisiert seine Streitkräfte
Serbien hat 2011 den obligatorischen Wehrdienst abgeschafft. Weiterhin bestand, neben einer Karriere als Berufssoldat, die Möglichkeit eines freiwilligen Dienstes. Doch bereits seit einigen Jahren wird über die Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht diskutiert.
Dass der Schritt nun umgesetzt werden soll, begründen regierungsnahe Sicherheitspolitiker mit der veränderten geopolitischen Lage und der Notwendigkeit, sich als neutraler Staat selbst verteidigen zu können. In Serbien spricht man von der Fähigkeit zur «totalen Verteidigung». Die Armee wird aber auch für Drohgebärden eingesetzt, vor allem gegenüber Kosovo. Bereits mehrmals versetzte Belgrad seine Truppen in Einsatzbereitschaft und verlegte grössere Verbände an die Grenze.
Serbien hat in den vergangenen Jahren erhebliche Summen in die Modernisierung seiner Armee investiert und verfügt zweifellos über die stärksten Streitkräfte im westlichen Balkan. Erst kürzlich wurde beim Besuch des französischen Präsidenten Macron der Kauf von 12 Kampfflugzeugen des Typs Rafale vereinbart. Das für seine Schaukelpolitik zwischen den Machtblöcken bekannte Land besitzt aber auch chinesische und russische Waffensysteme.
Grosser Personalmangel
Unter dem Eindruck zunehmender geopolitischer Spannungen, vor allem wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine, debattieren viele Staaten in Europa über die Rückkehr zum obligatorischen Wehrdienst. Lettland vollzog den Schritt im vergangenen Jahr, Serbiens Nachbarland Kroatien im August.
Der Experte für Sicherheitspolitik Vuk Vuksanovic bezweifelt allerdings, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Serbien das Resultat einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Bedrohungslage sei. Weder gebe es eine neue Sicherheitsstrategie noch seien die wirklichen Bedürfnisse der Armee analysiert worden, erklärt Vuksanovic gegenüber dem serbischen Dienst von Voice of America. Auch die Finanzierung der Wehrpflicht sei bisher ungeklärt.
Auch Predrag Petrovic vermutet andere Gründe für den Vorstoss. In einem Gastbeitrag für «Balkan Insight» verweist der Forschungsdirektor vom Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik auf den dramatischen Personalmangel bei der Armee. Laut der serbischen Soldatengewerkschaft haben demnach allein im letzten Jahrzehnt 12 000 Wehrmänner ihren Dienst quittiert. Mittelfristig fehlen der Armee 10 000 Mann.
Wichtiger als die relativ unattraktive Bezahlung sind für die Beendigung der Militärkarriere laut einer Studie die nepotistischen Strukturen innerhalb der Armee und mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Missstände prägen auch andere öffentliche Institutionen in Vucics Serbien. Den Personalmangel versuche man nun mit Wehrpflichtigen zu beheben, schreibt Petrovic.
Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern ein Kurzdienst von zweieinhalb Monaten das Problem wirklich beheben kann. In 75 Tagen erhalten die Rekruten lediglich eine einfache Grundausbildung. Für die immer komplexeren Anforderungen in einer hochtechnologisierten Armee sind sie damit nicht gerüstet.
Ablenkung von innenpolitischen Kontroversen?
Die Wiedereinführung der Wehrpflicht erfüllt laut Petrovic deshalb auch ein weiteres, innenpolitisches Ziel. Besonders die ältere Generation und konservativere Bevölkerungsschichten im Allgemeinen begrüssten den Schritt. Die Armee geniesst trotz den erwähnten Missständen in diesen Kreisen – Vucics Kernwählerschaft – weiterhin einen guten Ruf. Die Erinnerung an die jugoslawische Volksarmee ist ohnehin überwiegend positiv.
Die populäre Massnahme lenkt somit auch von innenpolitischen Kontroversen ab. Der Unmut über den geplanten Abbau von Lithium ist in Serbien sehr gross. Auch die Machtlosigkeit angesichts des kosovarischen Vorgehens gegen serbische Institutionen in Nordkosovo sorgt für viel Frust. Denn trotz allem Säbelrasseln ist eine militärische Intervention Serbiens in Kosovo illusorisch, solange die Nato die Sicherheit des jüngsten Staates in Europa garantiert.
Wechselspiel mit Kroatien
Vermutlich spielt auch die jüngste Reform in Kroatien in die Dynamik hinein. Obwohl die beiden wichtigsten Nachfolgestaaten auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien keine unmittelbare Bedrohung füreinander darstellen, beeinflusst der historische Antagonismus in beiden Ländern die öffentliche Debatte über sicherheitspolitische Themen.
Als Vucic im Januar das Thema Wehrpflicht aufgriff, löste das auch in Kroatien eine Diskussion aus. Nun kam der westliche Nachbar Belgrad zuvor und beschloss im August die Einführung eines obligatorischen Wehrdiensts von zwei Monaten. Kroatien hatte die Wehrpflicht 2008 abgeschafft.