Ein Jugendlicher zu sein, ist an sich schon eine Quälerei, ein Jugendlicher in der Emigration zu sein, ist noch schwieriger, und vor dem Krieg oder vor der Repression fliehen zu müssen, ist eine Katastrophe.
Auf dem Alexanderplatz, in der Mitte Berlins, sitzen Jugendliche, trinken Bier, hören Musik und sprechen laut auf Russisch. Es ist Frühling, die Abende sind noch kühl. Eine Gruppe von neun Jungen und Mädchen, zwischen 15 und 17 Jahre alt. Ein Mann mittleren Alters geht vorbei, hält inne, hört zu, fragt: «Russians?» Die Teenager lachen, nicken, stimmen zu. Der Mann bleibt noch eine Weile stehen, dann schreit er laut und wütend: «Fucking Russians!» – und geht weiter. Die Jugendlichen lachen lauter.
Aus der Gruppe sind nur drei Russen, drei weitere sind Ukrainer, ein Mädchen stammt aus der Moldau, ein Junge aus Litauen und ein weiterer aus Weissrussland. Sie sind zu unterschiedlichen Zeiten nach Berlin gekommen – ein paar vor fünf Jahren, ein paar leben seit drei Jahren hier, und ein paar kamen nach dem Ausbruch des umfassenden Ukraine-Krieges.
Ein Jugendlicher zu sein, ist an sich schon eine Quälerei, ein Jugendlicher in der Emigration zu sein, ist noch schwieriger, und vor dem Krieg oder vor der Repression fliehen zu müssen, ist eine Katastrophe. Selbst der Umzug in ein anderes Viertel in der eigenen Stadt bedeutet für einen Teenager Schwierigkeiten – eine neue Gemeinschaft, Probleme mit den neuen Mitschülern, beim Lernen, mit den Eltern, mit sich selbst, und das alles in einem fremden Land, in einer fremden Sprache.
Viele von ihnen haben nicht die Möglichkeit, ihre Heimat zu besuchen, um ihre Angehörigen zu sehen. Jemandes Haus wurde von russischen Raketen zerstört, Verwandte von der russischen Armee getötet, jemandes Angehörige sind verfolgt worden oder sitzen im Gefängnis. Und sie sind hier in Berlin. Sitzen auf dem Alexanderplatz, trinken Bier, hören Musik und lachen. Ein Moment unbeschwerten Zusammenseins.
Der Konflikt wird online ausgetragen
Als der Krieg in der Ukraine begann, fragte eine Lehrerin in der Schule meiner Tochter ein Mädchen aus Russland: «Findest du das normal, findest du das akzeptabel? Ist dir klar, dass dein Land ein Aggressor ist? Antworte – findest du das normal?» Das Mädchen war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt, und ihre ukrainische Freundin und Klassenkameradin sass neben ihr. Die Lehrerin wandte sich ihr zu: «Du bist Ukrainerin, findest du es normal, dass du mit einem Mädchen aus Russland befreundet bist?» Die Eltern haben nach diesem Vorfall mit der Lehrerin gesprochen, und die Mädchen sind immer noch Freundinnen.
Nicht alle Freundschaften sind erhalten geblieben. Als wir 2019 nach Deutschland zogen, war meine Tochter 11 Jahre alt. Sie hat schnell Freunde gefunden, auch solche aus der Ukraine. Die Kinder erstellten eine russisch-ukrainische Gruppe in den sozialen Netzwerken, und bis Februar 2022 fanden sie dort eine gemeinsame Sprache. Der russische Einmarsch in die Ukraine beendete diese Kommunikation.
Einige ukrainische Jugendliche reagierten extrem emotional auf die Ereignisse, Mädchen aus dem Aggressorland wurden von ukrainischen als «russische Huren» beschimpft, sie erhielten Nachrichten wie «Stirb, du Miststück», und kränkende Kommentare und Posts fluteten die sozialen Netzwerke. Seit Beginn des Krieges lassen Jugendliche aus der Ukraine, Weissrussland und Russland ihren Aggressionen in diversen Chats freien Lauf, sie benutzen wesentlich mehr Obszönitäten als sonst. Doch der akute Höhepunkt war einige Monate später vorbei, als Flüchtlinge aus der Ukraine im Bekanntenkreis meiner Tochter auftauchten. Überraschend leicht fanden sie mit den russischen Schülern eine gemeinsame Sprache.
Ständige Konfrontation mit dem Krieg
Irgendwann, noch zu Beginn des Krieges, ging meine Tochter mit einer Freundin in einen Kiosk, vor dem eine Gruppe Erwachsener, zwei Frauen, zwei Männer, etwa vierzig Jahre alt, sass. Sie hörten die Mädchen Russisch sprechen.
– «Seid ihr aus Russland?»
– «Nun, ja.»
– «Und wir sind aus der Ukraine. Unterstützt ihr den Krieg?»
– «Nein, natürlich nicht.»
– «Dann sagt ‹Ruhm der Ukraine›. Könnt ihr das?»
– «Kein Problem. ‹Ruhm der Ukraine›.»
– Gut gemacht, Ruhm für die Helden.
«Die Situation war nicht bedrohlich, sie war fast freundlich», sagte mir meine Tochter. Es sei unheimlich gewesen.
Dies ist eine der Situationen, mit denen russischsprachige Jugendliche fast täglich konfrontiert werden – auf der Strasse, in Geschäften, in öffentlichen Verkehrsmitteln. An einer Bushaltestelle stand ein Mann neben meiner Tochter, und als er sie mit ihrer Freundin Russisch sprechen hörte, fing er an zu rufen, wie gut Putin sei: «Es ist höchste Zeit, Amerika in seine Schranken zu weisen.»
Ständig dringt jemand in den Raum der Teenager ein, nur weil sie russischsprachig sind. Ukrainische Jugendliche haben das gleiche Problem, mit dem Unterschied, dass es für Fremde normal erscheint, sie nach dem Krieg zu fragen und danach, wie sie aus der Ukraine herausgekommen sind.
Ich habe die Freunde meiner Tochter einmal gefragt, warum sie nicht miteinander über den Krieg sprächen: «Ist es zu schmerzhaft?» Sie sagten, dass sie es nur einfach nicht wollten, weil ihre Eltern ständig über den Krieg sprächen, in der Schule werde darüber geredet, und sogar auf der Strasse würden sie mit diesen Fragen behelligt. «Wir wollen einfach nur leben und in Ruhe gelassen werden.»
Die Ukraine für immer verlassen
Im Bekanntenkreis meiner Tochter gibt es Jungen, die vor kurzem aus der Ukraine gekommen sind, ihre Eltern haben sie nach Europa geschickt, um sie vor der Armee zu bewahren. Wahrscheinlich werden diese Jugendlichen nie wieder in die Ukraine zurückkehren. In ein oder zwei Jahren fallen sie unter das Wehrdienstgesetz und ab dem 25. Lebensjahr unter das Mobilmachungsgesetz. Das heisst, sie können jederzeit an die Front geschickt werden. Wenn sie sich dem widersetzen und erst nach Kriegsende nach Hause zurückkehren, ist ungewiss, ob sie willkommen geheissen werden. Eine Geldstrafe ist ihnen sicher.
Einer von ihnen hat einen Vater an der Front, der darauf bestand, dass die Familie nach Europa geht, um wenigstens den Sohn zu retten. Jetzt ist dieser ukrainische Junge mit einem Mädchen aus Russland zusammen, sie sind beide 17 Jahre alt. «Sind deine Eltern einverstanden damit, dass du mit einer Russin ausgehst?», frage ich. Er versichert mir, dass seine Eltern mit seiner Entscheidung einverstanden seien. Schliesslich werde er nicht in sein Heimatland zurückkehren, und seine Freundin werde nicht nach Russland gehen, solange Putin dort an der Macht sei. Sie wollen beide in Deutschland Medizin studieren.
In den Fängen der russischen Propaganda
Es gibt ukrainische Jugendliche, die die russische Hymne singen, Putin als ihren Präsidenten bezeichnen, in den Schulen Aufkleber mit dem Logo der Söldnertruppe Wagner verteilen und Fotos von sich mit der russischen Flagge machen. Einer von ihnen ist ein 16-jähriger Flüchtling aus Charkiw. Auf die Frage, warum er das tue, antwortet er: «Ist nur Trolling, ein Scherz.» Es scheint, dass alles, was passiert, so erschreckend ist, so absurd, dass es schon wieder komisch wird. Ich erinnere mich auch an russische Jugendliche, die zu Beginn des Krieges aus Protest Ähnliches taten und Lieder wie «Jemand wie Putin» und «Onkel Wowa, wir sind mit dir» sangen und die russische Hymne hörten. Gleichzeitig nahmen sie eine proukrainische Position ein und sprachen sich in Diskussionen gegen den Krieg und das faschistische Regime Putins aus.
Natürlich gibt es auch Jugendliche, die putinistisch eingestellt sind. Nach Angaben von Lehrern einer Berliner Schule stammen diese oft aus russlanddeutschen Familien. Ihre Eltern sind während der Perestroika nach Deutschland gezogen, haben sich aber nie in die deutsche Gesellschaft integriert. Es gibt viele, die nie gelernt haben, fliessend Deutsch zu sprechen. Sie lesen keine deutschen Zeitungen, sehen kein deutsches Fernsehen; sie sind in den Fängen der russischen Propaganda geblieben.
Gemäss einem aus Russland stammenden Geschichtslehrer an einer deutschen Schule weigerten sich Jugendliche aus solchen Familien von Beginn des Krieges an, Fakten über den Einmarsch zu akzeptieren, von den Russen als Besetzer zu sprechen und die Krim als annektiert zu betrachten. Sie setzen sich ausserdem nicht kritisch mit der sowjetischen Vergangenheit auseinander. Damit, dass ihre Vorfahren während des Stalinismus deportiert und unterdrückt wurden.
Das Leben im Wartesaal
Die Integration von Jugendlichen aus Konfliktländern wird auch dadurch erschwert, dass ihre Familien für eine – wie sie meinen — kurze Zeit nach Deutschland gekommen sind. Bis die Lage in ihrem Land besser wird. Diese Situation besteht nun seit über zwei Jahren. Viele ukrainische Kinder setzen, zusätzlich zum Besuch deutscher Schulen, ihre Online-Ausbildung in ukrainischen Schulen fort. Die Eltern sehen mehr Vorteile in der ukrainischen Ausbildung – schliesslich werden die Kinder bald wieder nach Hause zurückkehren. Das Leben im Wartesaal hindert sie daran, die Sprache des Landes zu lernen, das ihnen Asyl gewährt hat.
Dennoch werden einige Ukrainer für immer in Deutschland bleiben, genau wie die Kinder der Emigranten aus Russland. Sie werden Teil der deutschen Gesellschaft werden, sich assimilieren und soziale Bindungen aufbauen. Der jugendliche Protest, der Maximalismus des «Alles oder nichts», der ständige Druck der Erwachsenen, die täglichen Diskussionen über den Krieg, die politische Lage in der Ukraine, in Weissrussland, der Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, in Israel, Palästina machen diese Kinder aggressiv oder völlig passiv. Und das ist, wie mir der Klassenlehrer meiner Tochter berichtet, noch harmlos im Vergleich zu Schülern aus dem arabischen Raum, die seit Oktober letzten Jahres unter besonders heftigem Druck stehen.
Die Lehrer an der Schule meiner Tochter sagen, dass es im Prinzip zwischen Kindern aus dem postsowjetischen Raum keine Konflikte aus nationalen oder politischen Gründen gebe. Der Komplex «Aggression» bestehe jedoch nicht nur aus Konflikten zwischen Klassenkameraden, sondern auch aus Autoaggression, Verweigerung von Regeln, jugendlichem Protest, mangelnder Bereitschaft, sich an eine neue Umgebung anzupassen.
Diese Kinder wissen nicht immer, was sie mit sich anfangen sollen, mit ihren Beziehungen zu Gleichaltrigen, mit ihrer Ausbildung, mit der Wahl ihres zukünftigen Berufs, und dann werden sie mit einer zusätzlichen Verantwortung in Form einer Frage konfrontiert: «Was denkst du über den Krieg? Auf wessen Seite stehst du?» Wir sollten ihnen das Recht zugestehen, nicht ständig über den Krieg nachdenken zu müssen. Wir sollten bedenken, dass die von dem Krieg betroffenen Teenager nicht einmal ihrer eigenen Identität sicher sind, bevor wir sie zwingen, Position zu beziehen.
Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Im Herbst erscheint ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung» bei Matthes und Seitz.