Der Gipfel wird entscheidend für die Schweizer Neutralitätspolitik der kommenden Jahre.
Im Bundesrat laufen Bestrebungen, Russland doch noch für die Konferenz auf dem Bürgenstock zu gewinnen. Gemäss Informationen der NZZ sollen mehrere Bundesratsmitglieder darauf hinwirken, den Russen eine offizielle Einladung zukommen zu lassen. Der EDA-Sprecher Nicolas Bideau hält auf Anfrage allgemein fest: «Die Konferenz auf dem Bürgenstock soll einen Friedensprozess anstossen. Die Schweiz ist überzeugt, dass Russland in diesen Prozess mit einbezogen werden muss. Darauf arbeitet die Schweizer Diplomatie aktiv hin. Ein Friedensprozess ohne Russland ist undenkbar.» Damit bestätigt Bideau die bisherige Linie seines Chefs.
Ignazio Cassis hatte immer betont, was bei der Aufregung um die anstehende Konferenz Mitte Juni manchmal vergessengeht: Frieden ist nur möglich, wenn sich die beiden Kriegsparteien auf die Bedingungen einigen können. Cassis hat Aussenminister Sergei Lawrow die Tür denn auch nie ganz zugeschlagen. Im Januar hat er seinem russischen Amtskollegen bei einem längeren Gespräch in New York klargemacht, dass man Russland einlade, am Friedensprozess teilzunehmen. Ob dies schon im Rahmen der Bürgenstock-Konferenz der Fall sein soll oder erst später und woanders, ist für Cassis zweitrangig. Hauptsache, die beiden Kriegsparteien finden sich irgendwann an einem Verhandlungstisch wieder.
Amherd schloss Teilnahme Russlands von Beginn an aus
Vielleicht werde es bei der anstehenden Konferenz auch um die Frage gehen, auf welche Art und Weise man Russland für Gespräche gewinnen könnte, sagte Cassis Anfang April bei der Ankündigung der Bürgenstock-Konferenz. Den Wandel vom «Friedensgipfel» hin zur «hochrangigen Konferenz zum Frieden» hatte das Vorhaben damals bereits hinter sich. Die anfängliche Euphorie ist längst der nüchternen Realität der Diplomatie gewichen.
Die Zusammenkunft zahlreicher Staatschefs könnte ein kleiner Schritt werden in Richtung Frieden – und ein grosser in der Aussenpolitik der Eidgenossenschaft. Kann die Schweiz ihre Rolle als Vermittlerin und zuverlässige Organisatorin Guter Dienste auch in einer sehr turbulenten Welt bestärken? Oder verliert sie an Glaubwürdigkeit, weil sie sich bereits zu sehr auf die Seite der Ukraine hat ziehen lassen? Sicher ist: Die Konferenz wird entscheidend sein für die Schweizer Neutralitätspolitik der nächsten Jahre.
Umso mehr erstaunt es, dass die Bestrebungen innerhalb des Bundesrats im Vorfeld der Konferenz zu divergieren scheinen. Gemäss Informationen der NZZ sind vor allem die bürgerlichen Bundesräte offen für eine Einladung Russlands. Man will sich nicht weiter den Vorwurf gefallen lassen, dass die Schweiz nicht mehr neutral sei. Die beiden SVP-Bundesräte Albert Rösti und Guy Parmelin gelten – mit gewichtiger Ausnahme des EU-Dossiers – als zuverlässige Verbündete von FDP-Bundesrat Cassis. Und Karin Keller-Sutter dürfte ihrem Parteikollegen nicht im Weg stehen. Die Vorliebe der Finanzministerin für die teure Veranstaltung soll sich mit dem bisherigen Setting in Grenzen halten.
Die vier Bürgerlichen im Bundesrat kritisieren keineswegs das Ziel des Friedensprozesses, sondern dessen Form. Bundespräsidentin Viola Amherd habe sich Anfang Jahr zu leicht und zu sehr von Wolodimir Selenski vereinnahmen lassen, als dieser an die Schweiz mit der Bitte herantrat, einen entsprechenden Friedensgipfel zu organisieren. Der ukrainische Präsident hat damals mit seinen angesichts des für die Ukraine negativen Kriegsverlaufs doch eher kühnen Friedensbedingungen (Rückgabe eroberter Territorien, Reparationszahlungen) eine russische Teilnahme faktisch ausgeschlossen.
Eine Haltung, die von Amherd nach aussen zumindest unhinterfragt übernommen wurde. «Russland wird wohl kaum dabei sein, aber mit allen anderen suchen wir jetzt das Gespräch», sagte sie in einem Interview mit den CH-Media-Zeitungen. Und dies, bevor Cassis überhaupt mit Lawrow in New York gesprochen hatte. Bald darauf machte Russland deutlich, dass sich das Land von der Schweiz nicht einladen lassen will – und eine Einladung auch nicht annehmen würde. Damit drohte schon früh, was Cassis eigentlich hat verhindern wollen: Die Bürgenstock-Konferenz könnte die Kriegsparteien noch weiter auseinanderbringen.
Die Propaganda beider Seiten hat sich jüngst denn auch wieder deutlich verstärkt. Wobei der Kampf um die Narrative vor allem für die Ukraine schwierig ist. Wie soll man im Inland Soldaten für den Krieg rekrutieren und gleichzeitig in der Innerschweiz über Frieden sprechen. Ob und wie man die Russen noch fragen will, hänge demnach vor allem von den Ukrainern ab, sagen mit dem Dossier vertraute Personen. «Im schlimmsten Fall muss man damit rechnen, dass sie dann die Konferenz abblasen würden», sagt ein Beobachter, «dann würde gar niemand kommen.»
Auch deshalb wird Cassis wohl nichts überstürzen. Er selbst sagte auch schon, dass die Anwesenheit der Russen beim Auftakt des Friedensprozesses nicht zwingend sei. Kommt dazu: Keines der Themen, auf die man sich bis dato für die Konferenz geeinigt hat (Humanitäres, nukleare Sicherheit, freie Schifffahrt, Ernährungssicherheit), hätten militärische Folgen. Die verschiedenen Staatschefs und ihre jeweiligen Allianzen könnten sich auf dem Bürgenstock somit erstmals in Ruhe abtasten, ohne sich zu viel versprechen zu müssen.
Eile mit Weile – das dürfte auch die Taktik sein von Bundespräsidentin Viola Amherd. In einem Interview mit dem «Blick» sagte sie am Montag, dass eine Einigung für eine weitere Konferenz, dann aber mit beiden Kriegsparteien, bereits ein Erfolg wäre. Angesichts der vielen Teilnehmer, die bereits zugesagt hätten, sei ein Scheitern der Konferenz gar nicht mehr möglich. Mit Amherd weht der olympische Geist über dem Bürgenstock: Dabei sein ist alles – solange Russland fernbleibt.