Die Widerstandskraft der russischen Schriftsteller ist unfassbar. Seit dem Zarenreich werden sie von den Machthabern abwechselnd hofiert und drangsaliert.
Russland ist ein auf Literatur fixiertes Land. Überall stehen Denkmäler für Schriftsteller der Vergangenheit, in der Regel auf nach ihnen benannten Strassen und Plätzen. Universitäten, Schulen und selbst Städte tragen stolz deren Namen.
Wie kam es dazu, dass sich die Literatur in Russland buchstäblich zu einer eigenständigen Macht verwandelt hat? Die Sache ist die, dass in Russland – sowohl dem zaristischen als auch dem kommunistischen und ebenso dem heutigen putinschen – der freie politische Gedanke immer verboten war. Zudem nicht nur der politische Gedanke. Vor der Revolution wurden der religiöse Gedanke, der abseits der Orthodoxie stand, und der Separatismus nationaler Provinzen unterdrückt, Soziologie und Philosophie wurden quasi abgeschafft.
Nach der Revolution kam es noch schlimmer. Es gab ein Verbot von allem, was als antisowjetisch galt. Die Strafen waren drakonisch, alle wissen, was der Gulag ist. Und in Putins Russland haben wir es nun mit einer ganzen Latte von Verbotenem zu tun – von Verteidigung gleichgeschlechtlicher Liebe bis hin zu Sympathie für die Ukraine, wobei Letztere als Hochverrat bestraft werden kann. Und nur die Literatur mit ihrem künstlerischen Text und ihrer manchmal äsopischen Sprache, auch im Selbstverlag oder im Ausland veröffentlicht, ist in der Lage, sich weiter zu artikulieren.
Das bedeutet keineswegs, dass sich der Schriftsteller in einer Sicherheitsblase befindet. Im Gegenteil, ein radikaler Wortschöpfer zu sein, der sich um Verbote nicht schert, ist gefährlich und bedrohlich. Hat einer aber erst einmal beschlossen, ein russischer Schriftsteller zu werden, dann stelle er seine Ängste in die Ecke oder suche sich eine andere Tätigkeit.
Viele mussten in die Verbannung
Der russische Staat war oft gnadenlos gegenüber Schriftstellern, angefangen bereits im 18. Jahrhundert, als die russische weltliche Literatur entstand und stärker wurde. Ihr erstes Opfer war Radischtschew, der Autor des Romans «Reise von Petersburg nach Moskau», in dem er die Leibeigenschaft scharf kritisierte und die französische Libertinage jener Zeit befürwortete. Er musste in die Verbannung.
Nach ihm waren noch viele andere Schriftsteller in der Verbannung, einschliesslich Puschkin, Lermontow und Turgenjew. Dostojewski sass gar vier Jahre lang in einem sibirischen Straflager. Einzig dafür, dass er bei einer Versammlung von liberalen Freunden einen Brief des Kritikers Belinski vorgelesen hatte, welcher darin Gogols Buch «Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden» verriss. Doch damit nicht genug. Zunächst hatte Zar Nikolai I. Dostojewski zum Tode verurteilt.
Der Kampf mit Schriftstellern, Gegnern der Sowjetmacht, begann sofort nach der Revolution. Verhaftet wurde der grossartige Dichter Nikolai Gumiljow wegen Beteiligung an einer Verschwörung gegen das Regime. Er wurde trotz den Bemühungen Gorkis erschossen. Die Sowjetunion unter Stalin wurde zu einer wahren Hölle für Schriftsteller. Wir haben viele Prosaautoren, Dichter, Dramatiker verloren. Die einen wurden zum Schweigen gezwungen, die anderen umgebracht.
Endlich durfte geliebt werden
Das chruschtschowsche Tauwetter gab uns ein Stückchen schöpferischer Freiheit zurück, das ausreichte, um Namen vergessener Schriftsteller wie Michail Bulgakow und Andrei Platonow aus der Versenkung zu holen. Es entstand die Bewegung der «Sechziger», die die Liebe zum Kommunismus gegen die Liebe «tout court» eintauschte.
Diese Sechziger durfte ich noch selber erleben: Achmadulina und Wosnessenski, Axjonow und Okudschawa – so verschieden, beinahe allesamt politisch höchst naiv, aber aufrichtig und romantisch. Zwar derselben Generation angehörig, aber ganz anders war Joseph Brodsky, der im Übrigen im Westen jetzt besonders bekannt ist für sein imperiales Gedicht über die Ukraine, das in liberalen Kreisen auch im heutigen Russland Empörung hervorruft.
Besonders hervorheben möchte ich hier das Werk von Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow, die während des Tauwetters einem weiten Leserkreis bekannt wurden. Solschenizyn demonstrierte ganz konkret die Möglichkeiten der Literatur: Er schrieb die Erzählung «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch», die in der Sowjetunion in der liberalen Zeitschrift «Nowy Mir» publiziert wurde und das Thema Gulag aufmachte. Für sein publizistisches Werk «Der Archipel Gulag» schickte ihn die Staatsmacht dann allerdings in die Emigration. Was Schalamow angeht, so war sein Erzählband über den Gulag allzu radikal für eine Veröffentlichung in Russland und wurde im Ausland herausgebracht.
Die einen flüchteten, andere kehrten zurück
In Russland bildete sich also eine Tradition zweier Literaturen heraus. Die eine wurde auf diese oder jene Weise auf Zusehen hin von der Sowjetmacht unterstützt. Die Autoren der anderen Literatur fanden sich, frei in ihren schöpferischen Träumen, je nach ihren Verfehlungen, nach Talent, Beliebtheit oder persönlichen Sympathien der jeweils Herrschenden in einer Opferposition.
Zu den wichtigsten Schriftstellern der ersten Gruppe gehören Lenins Freund Gorki und der Dichter Majakowski. Gorki war im vorrevolutionären Russland unglaublich populär, mehr noch als Tschechow, er unterstützte die Bolschewiki finanziell. Doch als Lenin an die Macht kam, zerstritt er sich mit ihm und ging ins Ausland, nach Italien. Stalin lockte ihn später von dort zurück. Er wollte aus Gorki den Autor seiner politischen Vita machen. Gorki kehrte zurück, die Biografie des Führers schrieb er nicht, publizierte jedoch viel Niederträchtiges, Konformistisches. 1936 starb er. Vielleicht hatten sie ihn vergiftet.
Majakowski war der wahrhaftige Dichter der Revolution, er glaubte an den Kommunismus, schrieb satirische Verse gegen Korruption und Bürokratie, aber in seinem Werk hatte er seinen eigenen Kopf bei der Wahl der Themen und Einschätzungen, weshalb ihn Ende der 1930er Jahre die Zeitung «Prawda» als Trotzkisten beschimpfte, was schon damals wie ein schreckliches politisches Urteil klang. Er nahm sich im selben Jahr das Leben. Den Toten proklamierte Stalin zum besten Dichter der Sowjetunion.
Die Emigrantenliteratur begann lange vor der Revolution von 1917. Der in Russland wichtigste und bekannteste Publizist der russischen Emigration wurde Alexander Herzen, der den polnischen antikolonialistischen Aufstand gegen Russland im Jahr 1863 unterstützte. Eigentlich beginnt mit ihm die zweite russische, die freie, europäische und nostalgische Literatur.
Die Revolution von 1917 provozierte eine Flucht von Kultur und Literatur aus Russland kolossalen Ausmasses. Manchmal nahm diese Flucht tragische Züge an. Lenin zwang 1922 mehr als 120 Vertreter der russischen Kultur per Schiff ins europäische Exil, unter ihnen Philosophen, Soziologen, Literaturkritiker.
Von den ersten Jahren der Revolution an kehrten herausragende Persönlichkeiten Russland den Rücken, unter ihnen Schriftsteller wie der spätere Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin, Kulturwissenschafter wie Dmitri Mereschkowski, Dichter wie Wladislaw Chodassewitsch und Georgi Iwanow, Literaturwissenschafter. Sie organisierten literarische Vereinigungen, gründeten Zeitschriften, veröffentlichten in russischsprachigen Zeitungen.
Aus der Zeitungslyrik, die er in Berlin für die Emigrantenpresse zu schreiben begann, ging nach und nach als strahlender Stern Vladimir Nabokov hervor. Ausserdem gab es einen Strom kultureller Emigration aus Sowjetrussland während des Zweiten Weltkriegs, aber die zweite reale Emigration der Schriftsteller geschah erst nach 1974, als Breschnew Juden die Ausreise aus der Sowjetunion gestattete.
Wladimir Maximow und Andrei Sinjawski – zwei gegensätzliche Marksteine der russischen Idee, der eine konservativ, der andere liberal, proeuropäisch – gründeten die Zeitschriften «Kontinent» und «Sintaxis». Ich publizierte einen bescheidenen Beitrag in Letzterer, noch in der Sowjetunion lebend. Bei der Ersteren konnte man mich wegen meines sogenannten Postmodernismus nicht ausstehen.
Unter Gorbatschow schien es eine Zeitlang, als würde es keine zwei geografisch getrennten Literaturen mehr geben. Einige Schriftsteller wie Juri Mamlejew kehrten aus der Emigration zurück. Auseinandersetzungen fanden erst wieder auf russischem Boden statt, doch wurden sie deshalb nicht weniger erbittert geführt.
Unter Putin begann ein neues Elend
Ab Mitte der 1990er Jahre, als noch alles möglich war, begann ein nostalgischer Rückfall eines bestimmten Teils der Literatur in die kommunistische Ära. Dieser Rückfall klang zunächst wie ein Protest gegen die Fehler der Perestroika, deren es nicht wenige gab, doch schliesslich kam wieder das alte Muster zum Vorschein: Die russische Literatur war wie immer in Westler und Slawophile gespalten. Diesmal allerdings stützten sich die Slawophilen auf die Mitarbeiter der Geheimdienste und nahmen Kurs auf die Schaffung einer Diktatur.
Alexander Prochanow schrieb seinen bekannten Roman «Herr Hexogen», in dem FSB-Offiziere die wahren Helden sind, die wollen, dass in Russland ein Auserwählter erscheint. Und siehe da, er erschien: Putin. Prochanow hatte ihn erkannt. Mit Prochanow entstand zugleich eine nationalistische Literatur der Jüngeren. Auch da gibt es talentierte Namen. Sachar Prilepin, heute glühender Verehrer Putins und Befürworter des von ihm angezettelten Kriegs, Autor des schrillen Romans «Heimstatt» über den Gulag auf den Solowezki-Inseln der 1920er Jahre. Es gibt darin einen nationalistischen Subtext, dennoch gelingt Prilepin die Entwicklung eines Gesellschafts- und Liebesdramas.
Mit der Machtübernahme Putins, des Auserwählten der Nationalisten, setzte wieder ein neuer Strom der Emigration von Intellektuellen und Schriftstellern ein. Nach und nach finden sich Säulen der zeitgenössischen russischen Literatur im Westen wieder: Wladimir Sorokin, Ljudmila Ulitzkaja, Boris Akunin, Dmitri Bykow, Michail Schischkin und andere. Man kann sagen, der Baum der Literatur hat sich so verbogen, dass all die goldenen Äpfel im Westen gelandet sind.
Es wächst auch eine neue Generation von Emigrantenschriftstellern heran, eine zweite Literatur wird stärker. Schon gibt es Sergei Lebedews Romane in verschiedenen Sprachen, besonders gut ist der Roman «Das perfekte Gift» über staatliche Giftmischer. In der Lyrik sticht das Talent von Alexander Delfinow hervor, der neulich erklärte, die russische Sprache habe sich in eine Mördersprache verwandelt. Übrigens gab er diese Erklärung auf Russisch ab.
In Russland ist die Literatur auch während des Krieges nicht gestorben. Entweder ist sie zur Z-Poesie der Fanatiker des Präsidenten verkommen, und darin findet man wenig Interessantes. Oder sie dreht sich um neutrale Themen. In Russland gibt es heute keine klar umrissene Ideologie ausser Putins Traum von seiner eigenen Unsterblichkeit, der imperial-politischen und der physischen. Daher bearbeiten die Schriftsteller eine Menge existenzieller Themen.
Diejenigen, die sich exponieren wie die Lyrikerin Schenja Berkowitsch, die knallhart über den Krieg geschrieben hat, oder die still für sich an der Situation leiden, sind in einer schlimmen Lage. Schenja Berkowitsch sitzt im Gefängnis. Der Pianist Pawel Kuschnir und Autor des erstaunlichen Romans «Russkaja nareska» (etwa «Russischer Cut-up») starb mit 39 Jahren unter ungeklärten Umständen in einem Gefängnis im fernöstlichen Birobidschan.
Eines Tages, viele Jahre später, wird es neue Denkmäler geben und neue Strassennamen, es wird wieder eine in ihrer ewigen Westler-Slawophilen-Debatte geeinte russische Literatur geben, und Gott (so er denn will) wird Russland eine neue freie Liebeslyrik bescheren, ähnlich jener der «Sechziger». Wer weiss, wie lange wir darauf warten müssen?
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew lebt seit Beginn des Ukraine-Krieges im Exil in Deutschland. – Aus dem Russischen von Beate Rausch.