Putin erobert die erste Stadt seit neun Monaten unter horrenden Verlusten. Die Ukrainer müssen befürchten, dass ihr Abzug zum opferreichen Chaos gerät. Viel hängt von der raschen Stabilisierung der Front ab.
Am frühen Samstagmorgen hat die Führung der ukrainischen Armee den vollständigen Rückzug aus Awdijiwka befohlen. «In einer Situation, in der der Feind über die Leichen seiner Soldaten steigt, um anzugreifen, zehnmal mehr Munition hat als wir und uns ständig bombardiert, war dies die einzige richtige Entscheidung», erklärte Brigadegeneral Olexander Tarnawski.
Die Ukrainer verlassen damit eine Stadt überraschend zügig, die mit Unterbrüchen seit Russlands Überfall auf den Donbass 2014 umkämpft war. Anfang Oktober 2023 begannen die Truppen Moskaus eine Offensive, bei der sie mindestens 650 Kampffahrzeuge und Tausende von Soldaten verloren. Dennoch rückten sie vor allem seit Anfang Jahr stetig vor. Wie der neue ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Sirski in der Nacht auf Samstag schrieb, drohte den eigenen Kräften die Umzingelung. Zudem wolle man das Leben der Soldaten schonen.
Russlands drückende Überlegenheit
Der Rückzug aus Awdijiwka ist bereits seit mindestens Mitte Woche in Gang. Um diesen zu decken, verlegte die Armeeführung mit der 3. Sturmbrigade ihre wohl stärkste Einheit in die Stadt. Überlegungen, sie mit zusätzlichen Kräften zu halten, wurden aufgrund des Munitionsmangels, der starken Überlegenheit des Feindes und des schlechten Wetters aber rasch aufgegeben. Zuletzt hatten die Russen in der Region laut Quellen beider Seiten 50 000 Mann gegen die 8000 Ukrainer in der Stadt in Stellung gebracht.
Die 3. Sturmbrigade lancierte in den vergangenen Tagen deshalb eine Reihe von Entlastungsangriffen, um den Gegner zurückzudrängen und so den Abzug der eigenen Kräfte zu ermöglichen. Die Ukrainer verliessen zunächst ihre Stellungen im Osten und Süden der Stadt. Vor allem der Verlust der stark befestigten Position «Senit» auf einer ehemaligen Luftverteidigungs-Basis besitzt dabei mehr als symbolische Bedeutung.
Soldaten klagten über chaotische Bedingungen, da der Befehl offenbar so spät kam, dass sie fast umzingelt waren. Sie mussten einen Teil ihrer Verwundeten und ihrer Ausrüstung zurücklassen, die Russen machten Gefangene, wie auch die ukrainische Armeeführung bestätigte. Die russischen Analysten von «Rybar» berichten über weitere Widerstandsnester von Einheiten im Stadtzentrum, die teilweise den Kontakt zur restlichen ukrainischen Armee verloren hätten.
Timelapse from @deepstate_ua shows how the situation in #Avdiivka rapidly deteriorated for Ukrainian troops since mid-January.
The rapid Russian advance was facilitated by a surprise Russian operation to get in Ukrainian flanks through an underground pipe & was enabled by an… pic.twitter.com/eszb5afam0
— Euromaidan Press (@EuromaidanPress) February 17, 2024
Ein einigermassen geordneter Rückzug mit moderaten Verlusten hängt davon ab, ob es den Ukrainern gelingt, einen Korridor aus der Stadt offenzuhalten. Im Verlauf des Samstags verdichteten sich allerdings die Hinweise darauf, dass dieser kollabiert ist. Wiesen die Experten von «Deep State», die regelmässig aktualisierte Frontkarten produzieren, den Westteil der Stadt am Mittag noch als «graue Zone» mit unbekanntem Status aus, so markierten sie ihn einige Stunden später bereits als russisch besetzt.
Möglicherweise fataler Verlust der Koks-Fabrik
Als fatal für die Verteidigung könnte sich aber vor allem der am Nachmittag von russischen wie ukrainischen Quellen gemeldete Fall der Koks-Fabrik im Nordwesten der Stadt erweisen. Bestätigt er sich definitiv, so verlören die Verteidiger damit ihre wichtigste Stellung nicht nur in Awdijiwka, sondern in der weiteren Umgebung. Das riesige Gelände verfügte über ein weitverzweigtes Tunnelsystem, ähnlich wie Asowstal in Mariupol.
Unklar ist nicht zuletzt das Schicksal jener Einheiten der 3. Sturmbrigade, welche die Keller als Basis nutzten. Noch am Freitagabend hatten sie Videos publiziert, die von den äusserst prekären Bedingungen dort zeugen. Die Ärzte behandeln eine grosse Zahl Verwundeter, von oben sind ständig Explosionen zu hören. Besonders zu schaffen machen den Ukrainern die schweren Flugzeugbomben, welche die Russen aus der Distanz abfeuern.
Diese russische «Bulldozer-Taktik», wie sie der ukrainische Militäranalyst Serhi Hrabski nennt, lässt durch ständigen Beschuss nur Ruinen von vormals starken Stellungen übrig. In Awdijiwka waren zuletzt viele Soldaten kaum mehr vor feindlicher Artillerie geschützt, was zu enormen Verlusten führte. Der Rückzug galt deshalb unter Experten seit vielen Wochen als unvermeidbar.
Für den weiteren Kriegsverlauf lautet die wichtigste Frage nun, wie geschwächt beide Seiten aus den Kämpfen hervorgehen. Putin hat sich diesen Prestigesieg, neun Monate nach dem Fall von Bachmut und kurz vor der Präsidentschaftswahl, zu einem möglicherweise noch höheren Preis erkauft. Die amerikanischen Nachrichtendienste nannten bereits im Dezember die Zahl von 13 000 Getöteten und Verwundeten.
Dennoch schafften es die Russen, ihre Verluste zu ersetzen und Verstärkung heranzuführen, während die Ukrainer seit Monaten immer grössere Probleme bei der Mobilisierung neuer Soldaten bekunden. Der Fall von Awdijiwka ist auch ein Rückschlag für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski und den von ihm jüngst ernannten Oberkommandierenden Sirski. Der Rückzug setzt sie Kritik aus, auch wenn er die richtige Entscheidung war.
Der Fall Awdijiwkas kann Konsequenzen haben
Für die Ukrainer bedeutet der Verlust Awdijiwkas zunächst, dass die von Russland besetzte regionale Metropole Donezk grösstenteils ausser Schussweite gerät. Dies erlaubt es Moskau, sie besser als Logistik-Drehscheibe zu nutzen. Da Awdijiwka seit 2022 in einem Kessel lag und von drei Seiten unter Feuer stand, könnte die Frontbegradigung den Ukrainern im Prinzip die Verteidigung erleichtern.
Dies hängt allerdings davon ab, ob die Verteidigungslinien westlich der Stadt stark genug sind. Laut Aussagen von Soldaten befand sich jene unmittelbar hinter Awdijiwka zumindest bis vor wenigen Tagen noch im Bau. Ohne das Bollwerk der Koks-Fabrik wird die Stabilisierung der Front zu einer noch grösseren und verlustreicheren Herausforderung, zumal das Terrain kilometerweit flach ist.
Der kremltreue Blogger Juri Podoljaka findet die Eroberung der Fabrik zentral, weil die nächste starke ukrainische Verteidigungslinie in den Hügeln zwischen Kurachowe nach Selidowe von Norden umgangen werden müsse. Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Russen den Sieg in Awdijiwka für einen weiteren Vorstoss in Richtung Westen nutzen können oder ob die ukrainische Vorbereitung gut genug war.