Zur Durchsetzung der Weltrevolution setzte die Sowjetunion ungeniert Gewalt ein. Was sie nicht daran hinderte, ständig das Wort «Frieden» im Mund zu führen. Sie stand in der alten russischen Tradition, sich als Vollstrecker einer historischen Mission zu sehen. Auch Putin teilt sie.
Ist Russland eine aggressive Nation? Vier Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine behauptete der Kremlsprecher Dmitri Peskow, ohne mit der Wimper zu zucken, Russland habe «während seiner ganzen Geschichte nie jemanden angegriffen». Und nachdem die Wirklichkeit Peskows Beschwichtigungen bereits Lügen gestraft hatte, predigte der russische Patriarch Kirill im Mai 2022: «Wir wollen mit niemandem Krieg haben. Russland hat nie jemanden angegriffen. Das ist erstaunlich, wenn ein grosses und mächtiges Land nie jemanden angreift, sondern nur seine Grenzen verteidigt.»
Man könnte Peskows und Kirills Aussagen als billige Propagandalügen abtun. Allerdings bedienen die beiden Putin-Marionetten ein Stereotyp, das in der russischen Gesellschaft weit verbreitet ist. Die Wurzeln des Mythos der «Friedensmacht Russland» reichen weit in die Sowjetzeit hinein. Der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko, der in den sechziger Jahren ganze Fussballstadien füllte, gab in seinem Gedicht «Wollen die Russen Krieg?» einer breiten Überzeugung eine Stimme, als er dichtete: «Fragt die toten Soldaten, die unter den Birken liegen, und ihre Söhne werden sagen, ob die Russen Krieg wollen.»
Sowjetische Geschichtslehrbücher rechtfertigten den Hitler-Stalin-Pakt mit der paradoxen Formel «Kampf um den Frieden»: Der Winterkrieg gegen Finnland diente der sowjetischen Selbstverteidigung. Die Okkupation der in der Zwischenkriegszeit unabhängigen Staaten Osteuropas wurde als «Befreiung von den Nazis» gefeiert.
Dieselben Narrative finden sich mit leichten Akzentverschiebungen in einem offiziellen Geschichtsbuch aus dem Jahr 2024. Im Zuge der schleichenden Rehabilitierung Stalins im putinistischen Russland ist hier ausschliesslich vom Molotow-Ribbentrop-Pakt die Rede, der im Übrigen nur eine Fortsetzung früherer deutscher Nichtangriffspakte mit Polen, England oder Frankreich darstelle. Die Sowjetunion sei «gezwungen» gewesen, Finnland anzugreifen. Das Verhältnis zwischen den sozialistischen Ländern und Moskau sei nach dem Krieg zwar «nicht immer optimal» gewesen, aber «im Ganzen» habe man «eine einheitliche Front in der internationalen Arena» gebildet.
Hobbyhistoriker Medwedew
Mittlerweile arbeitet der Kreml an zwei weiteren Geschichtsmythen: dem «angelsächsischen Faschismus» und dem «Genozid am sowjetischen Volk». Der eifrigste Propagator des «angelsächsischen Faschismus» ist der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew, der vor einem Jahr in einem Text auf der Website des russischen Sicherheitsrats seinen Lesern weismachen wollte, dass Grossbritannien und die USA den deutschen Nationalsozialismus herangezüchtet, finanziert und schliesslich auch exkulpiert hätten, um der Sowjetunion zu schaden.
Unter Medwedews Belegen findet sich eine angebliche Coca-Cola-Werbung für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin: «Ein Volk, ein Reich, ein Getrank (sic!), Coke ist es.» In Tat und Wahrheit handelt es sich dabei um ein Kunstprojekt aus dem Jahr 2004 – dieser Umstand ist dem Hobbyhistoriker Medwedew entgangen. Der «Genozid am sowjetischen Volk» ist seit 2020 Gegenstand zahlreicher russischer Gerichtsverfahren und wurde 2023 auch von Putin in einer Rede erwähnt. In dieser Argumentationsfigur wird die in der Tat hohe Zahl an zivilen Kriegsopfern in der Sowjetbevölkerung zu einem Völkermord umgedeutet – damit wird letztlich der Holocaust relativiert.
Entgegen den Beteuerungen des Kremlsprechers Peskow und des Patriarchen Kirill ist die Liste von russischen Angriffskriegen lang und reicht weit in die Vergangenheit zurück. Dabei lässt sich eine Reihe von Mustern beobachten, die auch für den Überfall Russlands auf die Ukraine konstitutiv sind: Die Entscheidungsträger umgaben sich mit einem engen Kreis von nationalistischen Ideologen, sie waren von einem imperialen Expansionsdrang beseelt, der Waffengang wurde religiös legitimiert, die eigene Stärke auf der internationalen Bühne wurde überschätzt, die ablehnende Reaktion der Bevölkerung in den eroberten Gebieten kam überraschend.
Seit der Regierungszeit Katharinas der Grossen bis zum Ersten Weltkrieg war die Eroberung Konstantinopels (russisch Zargrad) eines der wichtigsten ideologischen Ziele Russlands. Auch der Romanautor Dostojewski war überzeugt, dass «das Goldene Horn eines Tages uns zufallen» würde. Die russische Kontrolle über die Dardanellen trieb noch die letzte zaristische Regierung an, und sogar im April 1917, schon nach der Abdankung von Nikolas II., bestätigte Pawel Miljukow, der glücklose Aussenminister der provisorischen Regierung, dieses Kriegsziel. Katharina hatte ein «griechisches Projekt» entworfen. Sie wollte am Bosporus einen von Russland abhängigen byzantinischen Pufferstaat errichten und dort ihren Enkel regieren lassen – er wurde mit dieser Absicht auf den griechischen Namen Konstantin getauft.
Der Traum der Grossmutter
Schon Katharinas Annexion der Krim im Jahr 1783 war Teil des «griechischen Projekts» – die beiden wichtigsten Städte auf der Krim tragen bis heute die griechischen Namen Sewastopol und Simferopol. Zar Nikolaus I. versuchte im Krimkrieg (1853–1856), den imperialen Traum seiner Grossmutter militärisch umzusetzen. Er sprach vom «kranken Mann am Bosporus» und vertraute darauf, dass die christlichen Monarchien ihm im Krieg gegen die Türken freie Hand liessen. Allerdings sahen Grossbritannien und Frankreich ihre eigenen Interessen durch eine drohende russische Dominanz im Schwarzen Meer so sehr bedroht, dass sie sich sogar als historische Erzfeinde gegen Russland verbündeten.
Der Kriegsverlauf erwies sich als katastrophal für die russische Armee. Der österreichische Kaiser Franz Joseph, dem Nikolai noch fünf Jahre zuvor geholfen hatte, den ungarischen Aufstand niederzuschlagen, zwang den Zaren zum Rückzug aus dem Balkan. Der Krieg verlagerte sich auf die Krim, wo sich sogar Sewastopol geschlagen geben musste. Der Krieg endete mit einer Niederlage Russlands. Der fatale Feldzug hatte Russland über eine halbe Million Tote gekostet.
Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo zögerte Nikolaus II. lange mit der Kriegsentscheidung. Schliesslich gab er aber der nationalistischen Stimmung der Öffentlichkeit nach, die auf keinen Fall das orthodoxe Brudervolk der Serben dem Rivalen Österreich ausliefern wollte. Durch die komplizierte Bündnismechanik wurden das deutsche Kaiserreich und das russische Imperium zu erbitterten Feinden, obwohl sich die beiden verwandten Monarchen mit «Nicky» und «Willy» ansprachen.
Kurz nach Kriegsausbruch scharte sich die Duma hinter den Zaren und sprach in einer Erklärung von einem «heiligen Krieg gegen den Feind des Slawentums». Allerdings geriet der russische Feldzug im österreichischen Galizien zum nationalitätenpolitischen Fiasko.
Die russischen Besetzer erblickten in den Ukrainern «Kleinrussen», die es in den Schoss der grossrussischen Nation zurückzuführen galt. Ukrainisch wurde in den örtlichen Schulen als Unterrichtssprache durch das Russische ersetzt. Die ukrainischen Aktivisten in Galizien bildeten eine Freiwilligeneinheit von 2500 «Sitscher Schützen», die auf der Seite ihres «Vaters» Franz Joseph gegen die Russen kämpfte. Im 19. Jahrhundert war die ukrainische Kultur in der Habsburgermonarchie auf weniger Hindernisse als im Zarenreich gestossen. Der Erste Weltkrieg führte nicht nur zum Ende der Autokratie, sondern auch zur Einbusse weiter Territorien im Westen, wo die neuen Staaten Finnland, Polen, Estland, Lettland und Litauen entstanden.
Das Afghanistan-Debakel
1979 marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein. Die Sowjetunion unterstützte damit die kommunistischen Herrscher in Kabul, die sich ein Jahr zuvor an die Macht geputscht hatten. Die Kremlführung ging zunächst davon aus, dass es sich beim Einmarsch um eine kurze Intervention wie in der Tschechoslowakei 1968 handeln würde. Allerdings kämpften die Mujahedin erbittert gegen die sowjetischen Besetzer. Unter den von den USA finanzierten Kämpfern befand sich damals auch Usama bin Ladin. In Afghanistan erlebte die Sowjetunion ihr Vietnam. Erst während der Perestroika zog sich die Rote Armee aus Afghanistan zurück. Die Opferzahl unter der Zivilbevölkerung betrug wahrscheinlich mehr als eine Million, die Sowjetunion verlor 115 000 Soldaten.
Russland war und ist eine expansionistische Macht, die nicht vor dem Einsatz militärischer Mittel zurückschreckt. Wladimir Putin sieht sich als Vollstrecker einer historischen Mission, die alle russischen Länder wieder unter Moskauer Kontrolle bringen soll. Dabei geht es nicht nur um die heisse Eroberung der Ukraine, sondern auch um die kalte Übernahme Weissrusslands und die verdeckte Kontrolle Georgiens und der Moldau.