Erstmals seit drei Jahren sollen Gespräche zwischen Russland und der Ukraine stattfinden. Worüber wird verhandelt? Und wer nimmt daran überhaupt teil? Die wichtigsten Antworten im Überblick.
Seit dem Wochenende haben die Diskussionen um eine Waffenruhe in der Ukraine und die Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen Kiew und Moskau eine neue Dynamik erhalten. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte in der Nacht auf Sonntag ein russisch-ukrainisches Treffen am Donnerstag in Istanbul vorgeschlagen.
Damit wich er dem ultimativen Aufruf europäischer Staats- und Regierungschefs zu einer dreissigtägigen Waffenruhe aus. Nachdem Putins Vorschlag Unterstützung seitens des amerikanischen Präsidenten Donald Trump erhalten hatte, kündigte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski an, selbst in die Türkei zu reisen und dort auf Putin zu warten. Auch Trump wollte zunächst nicht ganz ausschliessen, nach Istanbul zu reisen – wenn dort Putin auftauchen würde.
Dieser liess bis am Mittwochabend offen, wer Russland vertreten soll, und machte mit seiner Entscheidung dann deutlich, dass er von dem Treffen offenbar wenig erwartet. Er selbst bleibt ihm jedenfalls erwartungsgemäss fern. Worüber genau verhandelt werden soll, ist ebenso wenig klar. Treibende Kraft dahinter ist Trump, der endlich einen Fortschritt seiner Friedensbemühungen sehen möchte. Weil Putin auf die Reise nach Istanbul verzichtet, wird auch Trump nicht anreisen.
Wer trifft sich in Istanbul?
Sicher ist vorläufig, dass Selenski in die Türkei reisen wird. Er will sich in Ankara mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan treffen. Wäre Putin nach Istanbul gekommen, wären sie gemeinsam an den Bosporus geflogen. Diese Idee hat sich erledigt. Trump hatte die Anwesenheit des amerikanischen Aussenministers Marco Rubio angekündigt. Auch seine beiden Sondergesandten Steve Witkoff und Keith Kellogg sollten anreisen. Am Mittwoch hiess es aber, Rubio und Witkoff träfen erst am Freitag in Istanbul ein.
Russland schickt, wie schon im Frühjahr 2022, eine niederrangige Delegation, angeführt von Putins Berater für Kultur- und Geschichtsfragen, Wladimir Medinski, der auch vor drei Jahren die Verhandlungen auf russischer Seite leitete. Begleitet wird dieser von Vizeaussenminister Michail Galusin, Vizeverteidigungsminister Alexander Fomin und dem Chef des Militärgeheimdienstes GRU, Igor Kostjukow. Selenski wollte seinen Stabschef Andrei Jermak, Verteidigungsminister Rustem Umerow, Aussenminister Andri Sibiha und den Präsidentenberater Igor Schowkwa entsenden.
Wann verhandelten die Ukraine und Russland letztmals?
Die letzten direkten Gespräche zwischen hochrangigen Vertretern der Ukraine und Russlands fanden im Frühjahr 2022 statt. Sie begannen wenige Tage nach Russlands Grossangriff auf die Ukraine, zunächst in Weissrussland, später in der Türkei und in Videokonferenzen. Ende April, Anfang Mai 2022 brachen die Gespräche ab.
Russland behauptet, die Ukraine habe damals ein bereits paraphiertes Dokument, auf das sich die beiden Verhandlungsdelegationen geeinigt hätten, verworfen. Das Papier, auf das sich Putin bezieht, wurde jedoch nie unterschrieben. Es enthielt in wesentlichen Punkten grosse Differenzen zwischen den Verhandlungsparteien – so in der Frage der Sicherheitsgarantien für die Ukraine, der Bewaffnung der ukrainischen Streitkräfte und der Eingriffe in die verfassungsmässige Ordnung der Ukraine zur Stärkung der Russischsprachigen. Einem neutralen Status und dem Verzicht auf einen Nato-Beitritt hätte Kiew aber bei Gewährung von Sicherheitsgarantien durch den Westen zugestimmt.
Ganz sind die Gespräche zwischen der Ukraine und Russland auch seither nicht abgebrochen: Auf technischer Ebene fanden regelmässig Kontakte statt, die zum Austausch von Kriegsgefangenen und Gefallenen führten. Indirekte Verhandlungen via Vermittler führten zum Getreideabkommen, das später von Russland beendet wurde.
Das letzte direkte Zusammentreffen der Staatschefs Russlands und der Ukraine fand am 9. Dezember 2019 in Paris zwischen Putin und Selenski statt, der letzte telefonische Kontakt der beiden im Sommer 2020.
Worüber soll verhandelt werden?
Der Fokus der Verhandlungen ist nicht ganz klar. Eine gemeinsame Verständigung darüber fehlt. Putin hatte in der Nacht auf Sonntag zu den direkten Gesprächen in Istanbul aufgefordert, in der Annahme, die Istanbuler Gespräche vom Frühjahr 2022 würden wieder aufgenommen. Putin sagte überdies, es gehe darum, die «ursprünglichen Gründe für den Konflikt» zu beseitigen.
Aus russischer Sicht fällt darunter alles, was die Ukraine zu einem souveränen, nach Westen orientierten, kulturell und sprachlich eigenständigen Staat mit eigenem Schutzbedürfnis macht. Da Russland behauptet, 2022 seien in grundlegenden Fragen Ergebnisse erzielt worden, will es die Verhandlungen daran anknüpfen, unter Berücksichtigung der «Veränderungen am Boden». Darunter versteht Moskau die Territorialgewinne, die es im Herbst 2022 mit der Einverleibung der vier Provinzen Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson besiegelte.
Was sich der Kreml unter einer solchen Einigung vorstellt, käme einer Kapitulation Kiews gleich. Eine Waffenruhe ist für Russland sekundär, auch weil die Fortsetzung der Angriffe dazu dient, die Ukraine während der Verhandlungen unter Druck zu setzen. Aus ukrainischer Sicht geht es umgekehrt darum, zunächst eine Waffenruhe zu beschliessen und den Krieg entlang der Frontlinie einzufrieren. Danach wäre Kiew zu Verhandlungen über einen langfristigen Frieden bereit.
Sollten die Delegationen der beiden Staaten, unter Umständen unter Vermittlung der USA und der Türkei, tatsächlich miteinander ins Gespräch kommen, ist vorstellbar, dass erneut über den Plan einer stufenweisen Waffenruhe verhandelt wird. Eine solche würde zunächst beispielsweise das Wasser, später die Luft und zuletzt die Kämpfe am Boden erfassen. Zu einer umfassenden Vereinbarung, wie sie Trump vorschwebt, scheinen beide Seiten derzeit nicht bereit. Dafür wäre noch viel mehr Vorarbeit nötig.
Wie ist die Lage an der Front?
Nach einem vorübergehenden Rückgang der Feindseligkeiten während der Feiern zum Tag des Sieges in Moskau haben die Kämpfe wieder an Intensität gewonnen. Am stärksten ist der russische Druck im südlichen Donbass. Die russischen Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den Grossteil des Stadtgebiets von Torezk und rücken auf Pokrowsk vor. Das Ziel bleibt, das gesamte Gebiet der Oblast Donezk – sowie der übrigen annektierten Regionen – zu erobern.
Die ukrainischen Verteidiger fügen den Angreifern grosse Verluste an Menschen und Material zu. Russland nimmt dies selbst für geringe Geländegewinne in Kauf und scheint bisher keine Schwierigkeiten zu haben, die Reihen wieder aufzufüllen.
Die Zahl russischer Soldaten entlang der gesamten Front ist laut ukrainischen Quellen auf 620 000 gestiegen. Gleichzeitig werden neue Taktiken getestet, um der Gefahr durch Drohnen zu begegnen, etwa der schwarmartige Einsatz von Motorrädern für die Truppenverlegung. Der ukrainische Beobachter Mikola Beleskow wertet dies als Vorbereitungen für eine Sommeroffensive.
Ein zweiter Fokus des Kampfgeschehens liegt im Norden. Dort versuchen die Ukrainer mit offensiven Aktionen an der Grenze zu den russischen Regionen Kursk und Belgorod feindliche Kräfte abseits der wichtigsten Schauplätze zu binden.
Ungeachtet aller diplomatischen Initiativen dauert der Abnützungskrieg an. Russland setzt dabei auf seine Überlegenheit an Ressourcen. Für die Ukraine ist die Gefahr eines Wegfalls der amerikanischen Militärhilfe derweil nicht gebannt. Laut Beleskow wären die unmittelbaren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung im Hinterland allerdings grösser als an der Front, da bei der Flugabwehr die Abhängigkeit vom Ausland besonders gross ist.
Was unternehmen die Europäer?
Die Europäer – konkret Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Polen – hatten Putin am 10. Mai bei einem Gipfeltreffen in Kiew ein Ultimatum gestellt. Sie forderten von Russland einen bedingungslosen Waffenstillstand ab dem 12. Mai, andernfalls würden die Sanktionen verschärft. Putin wies das als inakzeptabel zurück und schlug stattdessen die Verhandlungen in Istanbul vor. Nachdem er das Ultimatum hatte verstreichen lassen, brachte die EU am Mittwoch das 17. Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg. Die neuen Strafmassnahmen zielen vor allem auf die russische Schattenflotte und den Energiesektor.