Führende Vertreter des russischen Regimes weisen eine islamistische Urheberschaft zurück. Nun präsentieren die Ermittlungsbehörden zweifelhafte «Geständnisse», um ihre Sicht zu bestätigen.
Die Bilder der gefolterten und geschundenen mutmasslichen Attentäter vom Terroranschlag auf die Moskauer Crocus City Hall hatten bereits vor zwei Wochen klargemacht: Für Russlands Sicherheitsorgane und Ermittlungsbehörden geht es nicht mehr um Schuld oder Unschuld; die ausführenden Täter sind gefunden. Zur besten Sendezeit am Sonntagabend zeigte der Erste Kanal des russischen Fernsehens nun die vier als Haupttäter Verdächtigten auch mit «Geständnissen» über die Drahtzieher des Anschlags.
Gestammelte Versatzstücke
Auch diese Bilder, die offenbar vom Inlandgeheimdienst FSB stammen, hatten etwas Gespenstisches. Die Versehrungen von der Festnahme und den Misshandlungen waren den Männern weiterhin anzusehen. Drei von vier sprachen gepresst, abgehackt oder wie in Trance. Sie brachten kaum zusammenhängende Sätze heraus, sprachen aber Russisch. Dabei hatten zumindest zwei von ihnen bei der Festnahme nur auf Tadschikisch geantwortet und waren angeblich auf einen Übersetzer angewiesen gewesen.
Die vier Tatverdächtigen lieferten Variationen ein und derselben Erzählung. Laut ihren Angaben erhielten sie durch einen gewissen Seifullo die Anweisung, die Crocus City Hall zu überfallen und sich nach der Tat in Richtung Ukraine abzusetzen. In Kiew habe eine Belohnung in der Höhe von einer Million Rubel (umgerechnet rund 10 000 Franken) auf sie gewartet. Sie sollten bis wenige Kilometer an die ukrainische Grenze fahren, dort das Auto stehen lassen und anzünden. «Seifullo» habe versprochen, sie dann mit Personen in Verbindung zu bringen, die ihnen über die Grenze hülfen.
Dass sie in einem weissen Renault Symbol, mit dem sie bereits zur Konzerthalle gefahren waren, nach der Tat mehrere hundert Kilometer zum Teil mit deutlich übersetzter Geschwindigkeit von Moskau aus nach Südwesten gerast waren, ist unbestritten. In einem Waldstück im Gebiet Brjansk sollen sie von den Sicherheitsbehörden gestoppt und festgenommen worden sein. Für den Berichterstatter des Ersten Kanals ist die Sache damit klar: Erstmals würden die «Geständnisse» die direkte Beteiligung der Ukraine an dem Anschlag bestätigen.
Frei zirkulierende Fotos als «Beweise»
Von ukrainischer Seite seien in den Tagen davor zwei Grenzabschnitte bei den Dörfern Tschuikowka und Sopitsch in der ukrainischen Region Sumi entmint worden. Diese Vorbereitungen durch die ukrainische Armee seien ohne Anordnung von oben unvorstellbar. Die Ermittler hätten zudem Geldflüsse aus der Ukraine an die vier Tatverdächtigen feststellen können. Zusammen mit der angeblich in Kiew in Aussicht gestellten Bezahlung und den Spuren in den sichergestellten Mobiltelefonen gibt es für den Fernsehsender keinen Zweifel an der «ukrainischen Spur» der mutmasslichen Täter.
Nach allem, was der FSB, die Untersuchungsbehörden und führende Vertreter des Regimes in den vergangenen zwei Wochen taten und sagten, ist an unabhängige und glaubwürdige Ermittlungen nicht zu denken. Insgesamt wurden bis jetzt elf Personen inhaftiert. Die Aussagen der zur Schau gestellten Gestalten kann niemand überprüfen. Allein die Art und Weise dieser Inszenierung lässt daran zweifeln, dass die «Geständnisse» der Wahrheit entsprechen. Aufgeführt wird bereits im Stadium der Ermittlungen eine Art Schauprozess, bei dem das Ergebnis von Anfang an feststeht. Er dient nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Diskreditierung der Angeklagten und der Bestätigung politisch genehmer Theorien.
Hinzu kommt, dass die angeblich aus den Mobiltelefonen stammenden Fotos mit ukrainischer Symbolik als Beweise nichts taugen. Es handelt sich um Bilder, die frei im Internet zum Thema «ukrainische Armee» zirkulieren. Trotzdem endet der Bericht im russischen Fernsehen mit der Feststellung, diese Fotos seien eher die Spuren ukrainischer Nationalisten als solche radikaler Islamisten. Den Zuschauern wird als angebliches Ermittlungsergebnis das präsentiert, was den Behörden besonders gelegen kommt.
Putin weist islamistische Täterschaft zurück
Seit dem Tag nach dem Terroranschlag hatten wichtige Vertreter des Regimes bis hinauf zu Präsident Wladimir Putin von einer «ukrainischen Spur» gesprochen. Putin behauptete vergangene Woche sogar, Russland könne kein Ziel von Terroranschlägen islamischer Fundamentalisten sein. Seine Handlanger vom FSB und vom Auslandgeheimdienst SWR zeigen auf die Amerikaner und deren «Marionetten» in Kiew. Demnach liessen sich islamistisch beeinflusste Tadschiken für die Sache des «terroristischen Regimes» in der Ukraine und von dessen westlichen Einflüsterern instrumentalisieren.
Von Anfang an hatte die Befürchtung bestanden, entscheidend werde sein, wen die russischen Behörden als Täter benennen würden, und nicht, wer tatsächlich hinter dem Anschlag stecke. Noch laviert das Regime, noch wurden keine definitiven politischen Schlüsse aus den am Fernsehen präsentierten Erkenntnissen gezogen. Das sture Festhalten daran, dass dieser Terroranschlag nicht von Islamisten verübt wurde, sondern auf das Konto der Ukraine gehen soll, ist Ausdruck einer gefährlichen Verblendung.
Der in London lebende russische Politikwissenschafter Wladimir Pastuchow schrieb, für das Regime sei es bei einer «ukrainischen Spur» und der Schuldzuweisung an westliche Geheimdienste offenbar leichter, über das eigene Versagen hinwegzusehen. Pastuchow sieht die Gefahr jedoch gerade darin, dass die Konzentration auf den vermeintlichen Feind – die Ukraine und den Westen – die russische Führung davon abhält, die tatsächlich lauernden, tödlichen Gefahren zu erkennen.