Der Krieg gegen die Ukraine und die westlichen Sanktionen haben Russlands Wirtschaft umgekrempelt. Die Transformation begünstigt einzelne Branchen, vernachlässigte Regionen – und die Elite um den Präsidenten.
Aus der Panzerfabrik Uralwagonsawod in Nischni Tagil am Ural fahren die fertigen Kriegsgeräte über eine öffentliche Strasse direkt auf das Gelände, auf dem sie ihre Fahrtüchtigkeit prüfen. Präsident Wladimir Putin, heisst es in der Stadt stolz, komme gerne vorbei.
Vor Wochenfrist war er wieder da gewesen und hatte sich im Uralwagonsawod mit ausgesuchten Arbeitern unterhalten. Mit dem Werk verbindet Putin eine ganz besondere Geschichte: Als die Moskauer im Protestwinter 2011/12 zu Zehntausenden auf die Strassen gingen, um gegen die Rückkehr Putins in den Kreml und für faire Wahlen zu demonstrieren, bot ihm einer der Werksleiter an, seine Arbeiter zu schicken – falls die Polizei mit den Aufmüpfigen allein nicht fertig werde. Der Mann wurde nach Putins Wiederwahl zu einem der höchsten Beamten im Land ernannt.
Ob es auch mit der Stadt vorangehe, fragte Putin dieser Tage die Männer. Aber diese wollten lieber daran erinnern, dass ihr Werk einst im Zweiten Weltkrieg aus Charkiw hierher gerettet worden sei, und ihrer Dankbarkeit darüber Ausdruck geben, dass dank der «militärischen Spezialoperation» die Ukraine auch jetzt wieder von den «Nazis» befreit werde.
Renaissance der Rüstungswirtschaft
In Nischni Tagil, einer Industriestadt mit 360 000 Einwohnern, wird seit Jahrhunderten Eisen gehärtet. Das Stahlkombinat und Uralwagonsawod sind die grössten Arbeitgeber. Eines der stillgelegten Stahlwerke steht als Museum und Theaterkulisse mitten in der Stadt. Russlands Krieg gegen die Ukraine treibt Rüstungsfabriken wie Uralwagonsawod zu Höchstleistungen an. In drei Schichten, heisst es, wird Tag und Nacht gearbeitet. Wie in ganz Russland fehlt es an genügend qualifiziertem Personal. Für einfachere Arbeiten waren schon Strafgefangene aus den verschiedenen örtlichen Straflagern ins Spiel gebracht worden.
Die Rüstungswirtschaft – in Russland «militärisch-industrieller Komplex» genannt – gewinnt dank dem Krieg ihre vergangene Bedeutung zurück. Zugleich dürfen auch die Städte und Regionen, die von der Rüstungsindustrie geprägt sind, auf eine neue Blüte hoffen. Wie in jedem Krieg gibt es, neben all den physischen und psychischen Verheerungen in der Ukraine und in Russland, die Putins Entscheidung vom 24. Februar 2022 mit sich brachte, auch im Krieg gegen die Ukraine Profiteure. Der Kremlchef behauptet gar immer wieder, im Grunde profitiere ganz Russland davon, dass es sich zur «Verteidigung der Souveränität» entschieden habe und den westlichen Sanktionen trotze.
Putin meint damit zweierlei: die schnelle Erholung der russischen Wirtschaft nach dem Einbruch in den ersten Monaten 2022 mit wieder zumindest bescheidenem Wirtschaftswachstum und die Möglichkeiten inländischer Unternehmen, den Platz ausländischer Konzerne zu übernehmen, die Russland seit dem Kriegsanfang verlassen haben. Das führt zu einer Transformation der Wirtschaft, deren – zum Teil erst mit Verzögerung erkennbare – Schattenseiten der Kreml konsequent ignoriert.
Umverteilung von Grossstädten zu Randregionen
Die Wirtschaftsgeografin Natalia Subarewitsch von der Moskauer Staatsuniversität beschrieb im Sommer 2023 in einer Studie für den exilrussischen Think-Tank Re:Russia die neue «ökonomische Geografie in Zeiten der Spezialoperation». Ein wichtiges Ergebnis ihrer Untersuchung ist die Feststellung, dass durch die Ausweitung der staatlichen Nachfrage – besonders in der Rüstungsindustrie – und der staatlichen Sozialprogramme sich die realen Einkünfte von den Grossstädten und Zonen hochtechnologischer Produktion in der Peripherie verschieben.
Anders gesagt: Moskau, St. Petersburg und einige wirtschaftlich spezifisch ausgerichtete russische Regionen hatten in den Jahrzehnten davor vom zeitweiligen Wirtschaftsboom am meisten profitiert, während weite Teile des Landes sogar immer mehr abgehängt wurden. Der Krieg gegen die Ukraine korrigiert das nun. Erstmals sind es diese zuvor als peripher und abgehängt geltenden Regionen, die mehr von der «neuen Realität» haben als die städtischen Zentren und die modernen Industrie-Cluster, wie sie sich etwa für die Automobilindustrie in Kaliningrad, bei St. Petersburg und in Kaluga in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gebildet hatten.
Subarewitsch verweist auf ein Wachstum der Industrieproduktion in solchen Regionen von 10 bis 20 Prozent in der ersten Hälfte 2023. Ende vergangenen Jahres gab es eine Stabilisierung, aber der Trend ist unverkennbar. Noch eindeutiger präsentieren sich Zahlen zum Wachstum der Baubranche in Regionen, die direkt an die Kriegsgebiete angrenzen, etwa in der Region Rostow am Don, wo die Bautätigkeit in den ersten Monaten 2023 um 60 Prozent zunahm.
Gewinne für die «Normalbevölkerung»?
Die Wirtschaftsgeografin kann sich das nur mit dem Ausbau militärischer Einrichtungen in Grenznähe erklären. Das gilt auch für den Zuwachs an Investitionen, die übers Ganze gesehen stagnierten, aber etwa in Rostow um 74 Prozent zunahmen. Den Hauptteil machten staatliche Gelder aus. Selbst das Umsatzwachstum von Cafés, Bars und Restaurants in Rostow, das im gleichen Zeitraum 77 Prozent betrug, lässt sich mit mehr militärischen Gästen erklären. An Touristen kann es in Rostow eher nicht liegen. Der zivile Flughafen ist seit Beginn des Krieges geschlossen, die Stadt ist aus der Ferne nur noch per Bahn, Bus und Auto erreichbar.
Schliesslich wirken sich auch Rekrutierungen für die Front finanziell vor allem in tendenziell periphereren Regionen aus. Die Mobilisierten vom Herbst 2022, aber auch die Freiwilligen und viele der Vertragssoldaten stammen in erster Linie aus kleineren und mittleren Städten, Dörfern und generell weniger entwickelten Regionen. Der für russische Verhältnisse und besonders für diese Landesteile hohe Sold, die Zahlungen und Vergünstigungen für Angehörige von Frontsoldaten und Kompensationen bei Verletzung oder Tod fliessen entsprechend in diese Regionen.
Familien von Mobilisierten und Freiwilligen berichten zwar immer wieder davon, dass ein wesentlicher Teil der Einkünfte zunächst für die Vervollständigung der Ausrüstung aufgewendet werden muss. Aber der finanzielle Anreiz scheint weiterhin zu wirken, ja sogar die Hauptmotivation für die meisten zu sein, die sich zum Kriegsdienst melden. In einem polemischen Beitrag für den russischsprachigen Dienst von Radio Free Europe / Radio Liberty beschrieb im vergangenen Herbst der Nowosibirsker Historiker und Gründer einer Privatschule Sergei Tschernyschow, weshalb aus Sicht «normaler» russischer Bürger der Krieg gegen die Ukraine sogar ein Gewinn sei.
Tschernyschow, ein Kriegsgegner, der zum «ausländischen Agenten» gestempelt wurde und deshalb die Leitung seiner Schule abgeben musste, kommt darin zum Schluss, dass viele der Errungenschaften des Alltags, deren Verlust aufgrund der westlichen Sanktionen und politischen Repressionen die russischen Emigranten, Intellektuelle und Bewohner der Grossstädte bitter beklagten, für einen Grossteil der Bevölkerung ohnehin nie von Bedeutung gewesen seien. Also hätten sie auch nichts verloren. Stattdessen machten sich, wie von der Wirtschaftsgeografin Subarewitsch beschrieben, materielle Gewinne in einzelnen Regionen und Bevölkerungsschichten im Alltag bemerkbar. Hinzu kämen immaterielle Werte wie Stolz auf gefallene oder verwundete «Helden».
Hinterlassenschaften ausländischer Firmen
Auch auf der Ebene von Unternehmen und Geschäftsleuten findet eine Art von kriegsbedingter Umverteilung statt. Einheimische Produzenten nehmen in verschiedenen Branchen, zum Beispiel bei Konsumgütern und Lebensmitteln, noch stärker als zuvor den Platz ausländischer Unternehmen ein, die den russischen Markt verlassen haben. Russische Aktiva ausländischer Firmen, die nicht länger in Russland tätig sein wollten, wurden entweder vom Management übernommen oder von einheimischen Akteuren. Private-Equity-Firmen haben daraus sogar ein eigenes Geschäftsmodell gemacht und unterschiedliche Aktiva dieser Art zusammengekauft.
Russische Firmen konnten, wie etwa der Autohändler Avilon, ihre Marktpräsenz dadurch ausbauen, indem sie Fabrikationsstätten ausländischer Autokonzerne übernahmen. Noch fehlen ihnen allerdings Partner, die die Werkshallen wieder mit Leben füllen können. Das geht langsamer voran, als sich das viele wohl vorgestellt hatten. Einfacher ging es dort, wo der Staat direkt oder indirekt zum Vorzugspreis diese Fabrikanlagen übernahm – etwa in Moskau bei Renault, wo jetzt unter der wiederbelebten Marke Moskwitsch chinesische Fahrzeugteile zu Autos zusammengeschraubt werden, oder in St. Petersburg, wo der Avtovaz-Konzern im ehemaligen Nissan-Werk auf eigentlich chinesische SUV das eigene Logo klebt.
Wie sehr einheimische Geschäftsleute von den Schwierigkeiten ausländischer Firmen, den russischen Markt zu verlassen, profitieren, zeigen die Fälle des dänischen Bierbrauers Carlsberg und des französischen Milchprodukteherstellers Danone: Die russischen Betriebe dieser Konzerne wurden «vorübergehend» verstaatlicht und in die Hände von Günstlingen des russischen Regimes übergeben. Ähnliches gilt für die Verstaatlichungen im Energiebereich. Auch die erzwungene Abspaltung und Veräusserung des Russlandgeschäfts von Yandex führt dazu, dass die eigentlichen Begünstigten wohl zum Umkreis der zu Putins engster Umgebung zählenden Familie Kowaltschuk gehören.
Noch lange keine Konsolidierung
Ein Blick nach Nischni Tagil zeigt, dass noch lange nicht klar ist, welches die Kriegsprofiteure auf längere Sicht sein werden. Im Uralwagonsawod mag rund um die Uhr gearbeitet werden. Die Stadtteile, in denen die Arbeiter wohnen, sehen trotzdem heruntergekommen aus. Die Umverteilungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Regionen Russlands sind keineswegs konsolidiert.
Im Gegenteil, die Sanktionen, die Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Krieges und der Arbeitskräftemangel aufgrund von Mobilisierung, Emigration und rückläufiger Attraktivität für Gastarbeiter haben Russland eine Transformation aufgezwungen, deren Ergebnis überhaupt noch nicht absehbar ist. Dass tatsächlich erstmals seit drei Jahrzehnten vom Staat vernachlässigte Regionen nur wegen Russlands Krieg wirtschaftlich profitieren, ist einer der vielen tragischen Aspekte von Putins bald zweieinhalb Jahrzehnte andauernder Herrschaft.