Wassili Surikow «Jermaks Eroberung von Sibirien» Ölgemälde 1895: PD
Für Russland seien seine riesigen nordöstlichen Kolonien, die es ab Ende des 16. Jahrhunderts erobert und besiedelt hat, bis heute nichts weiter als eine Zone der Verbannung und der Ausbeutung, schreibt der russische Autor Sergei Lebedew. Indigene Völker bleiben marginalisiert, ihre Jugend wird im Krieg verheizt.
Als Kind hatte ich ein Lieblingsbuch. Das grösste Buch von allen, von denen es im Haus wahrscheinlich tausend gab. Es hiess «Atlas der UdSSR». Massstab 1:2 500 000, 25 Kilometer auf einen Zentimeter. Um von der Sowjetunion in diesem Massstab ein Abbild zu geben, waren mehrere Kilogramm Papier nötig.
Die UdSSR auf einer Wandkarte war von beeindruckender Grösse, und doch wirkte sie schwerelos. In einen Atlas «verpackt», war sie dagegen richtig schwer, und das löste kindliche Begeisterung aus: Wie viel von ihr, was heisst: viel von uns, gab es da!
Mein Vater, ein Geologe und Liebhaber der Sprache der Topografie, besass Karten von wahrscheinlich allen Ländern der Welt, Pappbroschüren mit Aufschriften wie «Ägypten», «Frankreich», «Chile» umgaben mich. Aber wie klein, wie fliegengewichtig waren sie im Vergleich zu dem riesigen Atlas! Bagatellen, Kleinkram, Luftnummern.
Man konnte das grosse Buch auf jeder beliebigen Seite aufschlagen – und sich in unbekannte Welten teleportiert fühlen, in Gebirge, in die Taiga, die Tundra, in den abstrakten Raum imaginärer Abenteuer. Abstrakt deshalb, weil man eigentlich sehr wenig über diese Orte wusste, und das erlaubte es einem, sie sich ganz bequem anzueignen, sie zu etwas Halbfiktivem zu machen, auf der Kippe zwischen der Realität und den phantastischen Büchern von Jules Verne.
Etwa zwei Drittel des Atlasses nahm selbstverständlich Sibirien ein. Das sich auf den Karten ausbreitende Sibirien war gigantisch im Vergleich zu dem winzig kleinen, lapidaren Sibirienkapitel im Geschichtslehrbuch. Es war das Verhältnis von Elefant und Maus.
Diese seltsame Relation suggerierte, dass Sibirien reine Geografie war, ein Raum ohne Geschichte, nicht Herr seines Schicksals. Und es in Besitz zu nehmen, war so einfach, so unumgänglich gewesen, weil es niemandes Eigentum war – es erstreckte sich einfach jenseits des Ural nach Osten und wartete auf den, der es als Erster entdecken und erschliessen würde.
Die Lust und die Macht, Namen zu geben
Gewiss, auf den Landkarten Sibiriens stolperte man über lokale Namen: Labytnangi, Chatanga, Bodaibo . . . Aber diese Orte waren völlig unbedeutende Entitäten, und das Auge suchte nach einer anderen, höher liegenden Schicht von Bezeichnungen, welche die lokalen Bezeichnungen ersetzten oder ausradierten. Namen für Gebirge, Inseln, Meere: die Laptewsee, die Anschuinseln, das Tscherskigebirge.
Es fiel einem gar nicht ein, dass diese Orte in fernen Zeiten anders geheissen hatten. Jemand hat sie mit nichtrussischen Namen bezeichnet und tut das vielleicht immer noch.
Es schien, als sei Sibirien erst in dem Moment aufgetaucht oder zum Leben erweckt worden, als die Augen der russischen Entdecker auf es fielen. Oh, wie wurden sie beneidet, die einst in Schiffen aufbrachen oder in Karawanen ausritten, die so viel leeren Raum vor sich hatten, dass sie auf Schritt und Tritt diese neuen Realien taufen und dabei sich selbst und die Freunde namentlich verewigen konnten. Und natürlich gingen auch die gekrönten Häupter nicht vergessen, auf deren Weisung sie losgezogen waren.
Wie spät war ich selber geboren – zu spät, alles war schon benannt, alles schon entdeckt, doch insgeheim dachte man: Vielleicht wurde etwas übersehen, und es gibt noch mehr? Vielleicht irgendwo noch einen Fluss, eine Au oder eine Insel, bislang namenlos, die auf mich warteten?
Damals verschlang ich die Bücher von Ernest Thompson Seton, James Fenimore Cooper, Thomas Mayne Reid, die vom Kampf der indigenen Völker des nordamerikanischen Kontinents gegen die aus Europa eingewanderten Siedler erzählten, die für sie Invasoren waren. Sie wurden in der UdSSR in riesigen Auflagen veröffentlicht, wahrscheinlich weil die Geschichten bestens als indirekte Kritik am westlichen Imperialismus funktionierten.
Ich vertiefte mich, so wie viele andere junge Leser, in die Welt der indianischen Stämme, in das Alltagsleben und die kriegerischen Auseinandersetzungen. Natürlich spielten wir im Sommer manchmal Indianer, konstruierten Bogen aus Haselnussgerten, sammelten Vogelfedern, um uns daraus Kopfschmuck zu basteln.
Ich fieberte mit den Indianer-Kriegern, die beherzt ihre Weiden und Wälder verteidigten – aber mir fiel nie ein, dass meine Empathie genauso gut den indigenen Völkern Sibiriens gelten könnte, den Chanten, Ewenken, Jakuten und Dutzenden anderer, die sich mit der Waffe in der Hand gegen die russische Eroberung gewehrt hatten. In der russischsprachigen Kultur hatten diese Geschichte und selbst eine begrenzte Reflexion darüber schlicht nie stattgefunden, obwohl die beiden Prozesse, die Eroberung des amerikanischen Westens und die Eroberung des russischen Ostens, historisch gesehen parallel verliefen.
Was die Bilder und die Wahrnehmungsmuster betrifft, dominierte in Russland das Bild der «Unterwerfung Sibiriens», des heroischen Kampfes gegen die Natur und nicht der brutalen Unterwerfung von bereits ansässigen Menschengruppen. Diese Deutung ist bis heute unerschüttert geblieben. Die Russen als Pioniere, als Entdecker, nicht als Kolonisatoren, die gekommen waren, um sich fremder Lande zu bemächtigen, die bereits jemand anderem gehörten.
Die Staatlichkeit der lokalen sibirischen Völkerschaften war zu schwach ausgeprägt, um Russland militärisch Widerstand leisten zu können. Keine Schlacht ist im historischen Gedächtnis haften geblieben.
Russland aber drang vor, setzte sich fest, zog weiter, immer weiter – bis übers Meer nach Alaska.
Eroberung contra Unterwerfung
Womöglich wäre dieses Narrativ im 20. Jahrhundert zumindest teilweise infrage gestellt worden, hätte es nicht den bolschewistischen Umsturz von 1917 gegeben, der zur Abschaffung vieler bürgerlicher Rechte führte, darunter des Rechtes auf Landbesitz. Nach ihrer Unterwerfung, ihrer politischen und wirtschaftlichen Eroberung waren die indigenen Völker Sibiriens nicht mehr Herr über ihr Land im einfachsten juristischen Sinne – sie durften nicht länger selber über ihre Rentierweiden und ihre Waldflächen verfügen.
Die völlige Abschaffung der Eigentumsrechte ermöglichte es dem sowjetischen Staat, die Gebiete der indigenen Völker gnadenlos auszubeuten, ohne auf juristischen Widerspruch zu stossen. Und auch das Sowjetregime griff auf dasselbe Pathos der Unterwerfung der Natur und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen zurück. Seine populären romantischen Helden waren «moderne» Pioniere, Sachwalter der sozialistischen Kolonisation: Topografen und Geologen, Polarforscher und Piloten, die mit vereinten Kräften einen scheinbar menschenleeren, geschlossenen Raum erkunden, dessen Reichtümer aufspüren und in «Gemeineigentum» verwandeln.
Den Einheimischen fiel die offizielle Rolle von Helfern zu, die den Repräsentanten des Zentrums und der Zivilisation halfen, den Weg zu den Naturschätzen zu finden, die niemandes Eigentum waren. Sie gehörten allein der Natur und mussten ihr entrissen werden.
Das vorrevolutionäre Russland war in diesem Sinne ehrlicher. Auf der «Karte der allmählichen Ausdehnung der Grenzen des russischen Reiches seit 1462» aus dem Jahr 1908 wird in Bezug auf Sibirien der Begriff «Eroberung» verwendet. «Erobert während der Herrschaft von Zar Fjodor Iwanowitsch . . .», «Erobert während der Herrschaft von Zar Michail Fjodorowitsch Romanow . . .»
«Erobert» aber heisst, dass es jemanden gab, gegen den gekämpft werden musste. Es war also Blut geflossen. Im sowjetischen Sprachgebrauch wird das Wort «Eroberung» ein für alle Mal verschwinden und durch die weniger bestimmte Formulierung «Unterwerfung» ersetzt werden. Unterwerfen kann man auch bloss die Natur, nicht wahr?
Koloniale Gulag-Perspektive
Der Inbegriff des Horrors in den Konzentrationslagern der Nazis waren die Gaskammern und Krematorien. Der Inbegriff des Horrors in Stalins Lagern war die bittere Kälte Sibiriens. Die Gaskammern und Krematorien mussten erst errichtet werden, auf der Grundlage eines Plans. Die Kälte gibt es ohne den Menschen, sie muss nicht erst organisiert werden. Sie tötet völlig unpersönlich. Ihr kann man nichts vorwerfen.
Sibirien ist der ideale Ort für staatliche Verbrechen. Verborgen vor den Blicken der Welt, ganz ohne Zeugen. Die Abgeschiedenheit, die Menschenleere, die Härte der Natur sind der bestmögliche Nicht-Ort. Vom europäischen Teil Russlands aus gesehen liegt es «ausserhalb», jenseits der Grenzen der bewohnten Welt, in der Wildnis.
Es ist kein Zufall, dass die Geschichte der Kolonisation Sibiriens seit der Zarenzeit eine Geschichte von Verbannung und Vertreibung ist. Nach Sibirien wurden die Aufständischen und Widerständigen aus den westlichen Randgebieten des Imperiums verbannt, und so verwandelte sich Sibirien in einen Ort erzwungener Transformation, eines Wechsels der Identitäten. Die Widersacher des Imperiums selbst oder ihre Nachkommen wurden zwangsläufig zu Entdeckern und Kolonisatoren, die wissenschaftlich oder administrativ Karriere machten und ihre Namen auf Landkarten, in zoologischen Kompendien oder Mineralienregistern hinterliessen.
Doch der Höhepunkt der Geschichte Sibiriens als Ort der Strafe kam natürlich mit der Sowjetzeit.
Die Vernichtungslager der Nazis befanden sich, auch wenn sie meist im Osten und relativ weit vom deutschen Kernland entfernt lagen, immer noch inmitten dicht besiedelter Gebiete. Rundum gab es viele Zeugen.
Die sowjetischen Lager in Sibirien, Vorposten der gefürchteten sowjetischen «inneren Kolonisation», lagen in dünn besiedelten Gebieten, die von Völkern bewohnt wurden, welche nicht durch etablierte kulturelle Kanäle mit dem europäischen und im weiteren Sinne dem Gedächtnis der Welt verbunden waren. Die Zahl ihrer Zeugnisse über den Gulag ist verschwindend klein. Die vorherrschende Perspektive ist und bleibt der Blick von hinter dem Stacheldraht, der Blick des Häftlings, der Blick der aus Russlands Mitte hierher Verschleppten. Von Leuten, die in Sibirien völlig fremd sind.
Was haben die Einheimischen erlebt, was haben sie empfunden, als das Sowjetregime verbrecherisch in ihr Leben einbrach, die Ordnung ihres Lebensraums zerstörte, ihre jahrhundertealten Traditionen obsolet machte und ihre Ressourcen auszuplündern begann? Was bedeutet es, dass in kurzer Zeit auf ihrem Territorium lebendige Tote in einer Menge «abgeladen» wurden, welche ihre eigene Zahl bei weitem übertraf? Wie hat die Nekronomie des Gulag, die auf die Ausbeutung der lokalen natürlichen Ressourcen ausgerichtet war und als «Schlacke» Berge von Leichen zurückliess, diese Regionen und diese Völker für immer verändert?
Diese kapitale Frage hat in Russland leider noch keinen Eingang in den Diskurs der liberalen Öffentlichkeit über den Gulag gefunden. Dessen Kern bleibt die zwangsweise Beförderung «russländischer Europäer» an den Rand der Welt oder über diesen hinaus, in einen Raum des Nichtseins und des Todes, aus dem kaum einer als überlebender Zeuge zurückkehrte. Das hohe Interesse an ihrem schrecklichen Schicksal ist verständlich. Erstaunlich jedoch ist, wie wenig die Forschung den lokalen Zeugnissen nachging. Aus diesem Grund auch verharrt die Literatur über den Gulag insgesamt in einer kolonialen Optik, welche die Perspektive der indigenen Völker ignoriert.
Geiseln des Systems
Natürlich hat jeder Leser Mitleid mit einem Opfer des Regimes, das seiner Freiheit beraubt und in eine Hölle von Entbehrung und Demütigung gestürzt wird. Aber gleichzeitig wird dieser Häftling zu einem Teil des Kolonisationsprojekts. Er ist gezwungen, zusammen mit anderen Unglücklichen Sibirien zu «unterwerfen». Und die lokalen Realitäten sind für ihn bloss ein Hindernis, das ihm den Weg in die Freiheit versperrt.
Gleichzeitig bleibt der Widerstand der indigenen Völker gegen die Sowjetisierung im Allgemeinen ausserhalb des Kanons der russischen (liberalen) historischen Erinnerung. Die Kollektivierung von Rentierzüchtern, die Verfolgung von Schamanen, monatelange bewaffnete Aufstände in der Tundra passen nicht in das narzisstische Selbstbild der russischen Macht. Hier hätte es einer besonderen Anstrengung, einer Anerkennung der besonderen Verantwortung, einer besonderen Aufmerksamkeit für das Schicksal der indigenen Völker bedurft, wozu die russische Gesellschaft unfähig war – in erster Linie deshalb, weil sie nach wie vor einem imperialen Denken verhaftet ist, ohne dies zu bemerken.
Dabei sind die indigenen Völker Sibiriens, die nach russischen Statistiken etwa 1,5 Millionen Menschen ausmachen, über riesige Gebiete verstreut und unterscheiden sich stark in ihrer Lebensweise. Sesshaftigkeit und Nomadismus, Ackerbau, Viehzucht, Rentierzucht, Jagd, Gewerbe existieren in unterschiedlichen Anteilen, was unter anderem eine Folge der aggressiven wirtschaftlichen Erschliessung durch das Zentrum ist, da keines der Gebiete, in denen indigene Völker leben, ausreichend als Gebiet mit «traditioneller Lebensweise» geschützt ist.
Da sie gewissermassen Geiseln des russischen Staatssystems sind, unterstützen manche «Stammesführer» und Intellektuelle der indigenen Völker die russländische imperialistische Aggression gegen die Ukraine, wie etwa der chantische Schriftsteller Jeremej Aipin, Verfasser des antikolonialen Romans «Muttergottes im blutigen Schnee» (2002), der vom Aufstand der Völker des hohen Nordens gegen die sowjetische Herrschaft erzählt. Dieser paradoxe Umstand unterstreicht den Grad der Abhängigkeit der indigenen Völker, deren Sprache und Kultur die Russifizierung droht und deren männliche Bevölkerung im wehrfähigen Alter im Krieg gegen die Ukraine verheizt wird.
Die Energiepille
Die gigantischen Vorkommen von Öl und Gas im westsibirischen Tiefland wurden erst nach Stalins Tod entdeckt und erschlossen.
In der späten UdSSR erzählte man sich Witze und Geschichten über spezielle «Verjüngungspillen», die angeblich von einem geheimen medizinischen Institut hergestellt wurden, um den dementen Greisen des Politbüros die Jugend zurückzugeben. Es lässt sich sagen, Sibiriens Öl und Gas wurden dank Export und Valutaeinnahmen zu einer ebensolchen «Pille» für die marode Wirtschaft der Sowjetunion.
Es ist unmöglich zu wissen, wie lange die UdSSR ohne dieses «Doping» existiert und wie ihr Ende ausgesehen hätte.
Russland übernahm die Vorkommen, errichtete ein Fördersystem und wurde im grossen Stil Öl- und Gaslieferant Europas. Es machte sich in den neunziger Jahren unter Jelzin die Vorstellung vom «Wandel durch Handel» zu eigen, die Idee von der Annäherung der Länder und Systeme durch Pumpen und Pipelines. Und Putin, als nachfolgender Präsident, bekam seine Konjunktur – über einen erheblichen Anstieg der Preise für diese Ressourcen.
Der Putinsche Staat, in dem sich nach 2000 ziemlich schnell ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag herausbildete – die Bürger geben individuelle Rechte und demokratische Freiheiten im Austausch gegen wirtschaftlichen Wohlstand preis –, ist das Ergebnis dieser Konjunktur. Putins personalistische Diktatur und Kleptokratie sind deshalb möglich, weil in ihren Adern Öl und Gas fliessen. Die Öl- und Gasgelder machen etwa 30 Prozent aller russischen Haushaltseinnahmen aus.
Das Kernstück von Putins Diktatur ist die halbgare Idee einer globalen Revanche, ein gemeinsamer Aufstand von Verlierern der Geschichte gegen die Vorherrschaft des Westens. Es fehlen ihr jedoch die Elemente des Fanatismus oder des totalen Zwangs, wie sie für das stalinistische Modell einer aggressiven Diktatur charakteristisch sind, bei der der Staat nach Gutdünken über das Leben der Bürger verfügen kann.
Putin hat keine postrevolutionäre sowjetische Gesellschaft zur Hand, die an totale Entbehrung, Gewalt und ideologischen Drill gewöhnt ist. Er hat es mit einer urbanisierten, zynischen und apathischen Gesellschaft zu tun, der er ein gewisses Wohlstandsniveau bieten muss. Dieses schafft er mithilfe der russischen Rohstoffe. Von daher liegt die Quelle der Macht des Regimes weder in Moskau noch im Kreml, weder in Slogans noch in Propagandakampagnen – sie liegt in Westsibirien, tief in der Erde, wo Öl und Gas lagern.
Eines Tages werden die Vorräte zur Neige gehen. Aber noch nicht so bald. Wenn es in ferner Zukunft in Russland einmal eine echte Föderalisierung geben sollte, müssten die sibirischen Völker ihren Anspruch auf die Ressourcen ihrer angestammten Heimat geltend machen können. Eine Dezentralisierung der Verfügungsmacht über den natürlichen Reichtum wäre die Garantie für eine Transformation Russlands in ein normales Land. Es würde zu einem Nachbarn, von dem keine Gefahr ausgeht.
Allerdings gibt es noch einen weiteren Faktor, der Russlands Kolonialpolitik in der Region in langfristiger Perspektive beeinträchtigen könnte: die globale Erwärmung.
Das grosse Tauwetter
In Russland steht man der Idee des Klimawandels, des Klimaschutzes und des damit verbundenen verantwortungsvollen Konsums fossiler Energie eher skeptisch gegenüber. Die Haltung gegenüber der Natur ist nach wie vor invasiv-unterwerfend. Zudem stellt die grüne Agenda, insbesondere eine grüne Energiepolitik, eine direkte oder indirekte Bedrohung für den russischen Export dar. Sie stellt jenes System der Energieabhängigkeit zur Disposition, das Russland gegenüber der Welt zu einem politischen Instrument gemacht hat.
Etwa elf Millionen Quadratkilometer des russländischen Territoriums, also etwa zwei Drittel der Gesamtfläche, liegen unter Permafrost. Dieser reicht unterschiedlich tief in den Boden.
Und er hat begonnen zu tauen, wie wissenschaftliche Beobachtungen zeigen. Einerseits führt die globale Erwärmung zum «Auftauen» Sibiriens, der Arktis, der Nordostpassage und macht diese Gebiete zugänglicher für Ausbeutung. Deshalb mag der Klimawandel in den Augen der russischen Führung ein Gutes haben. Andererseits sagen Wissenschafter voraus, dass der Rückgang des Permafrosts zu erheblichen Emissionen von CO2 und Methan in die Atmosphäre führen könnte. Das wiederum würde den Prozess des Auftauens beschleunigen.
Die koloniale Logik der Erschliessung Sibiriens, die Strassen, die Brücken, die Gebäude – alles basiert auf der Annahme, dass der Frost ewig sein werde. Doch ist diese Dauer nun infrage gestellt. Der schwindende Permafrost zerstört alles. Die Zivilisation versinkt im Morast und mit ihr die Öl- und Gasinfrastruktur.
Das ist eine weit über Putins revanchistische Kriege hinausgehende langfristige Herausforderung, an der Russland möglicherweise scheitert. Und die es auch zwingen könnte, seine aggressive Haltung gegenüber Natur und Mensch zu überdenken.
Mit alldem dürfte auch Sibiriens im wörtlichen wie übertragenen Sinne «eingefrorene» Geschichte in Bewegung geraten. Spätestens der Klimawandel, welcher die in der Sowjetzeit gewachsenen sowie die in der Putin-Zeit befestigten und ausgebauten Strukturen der kolonialen Ausbeutung Sibiriens obsolet werden lässt, könnte zum Anstoss politischer Transformationen werden.
Sergei Lebedew, Jahrgang 1981, gehört zu den bedeutenden Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Er lebt in Deutschland. Soeben hat er bei Rowohlt herausgegeben: «Nein! Stimmen aus Russland gegen den Krieg». – Aus dem Russischen von Andreas Weihe.