Nach dem schlimmsten Terrorangriff seit zwei Jahrzehnten sucht Moskau die Schuld bei der Ukraine und dem Westen. Doch das Modell stösst an Grenzen, denn die zentrale Frage bleibt unbeantwortet.
Russland zeigt nach dem Terroranschlag vom Freitagabend zwei Gesichter. Die Menschen im ganzen Land trauern um die 137 unschuldigen Toten und 182 Verletzten. Vor der Crocus City Hall legen sie am Sonntag Blumen nieder und entzünden Kerzen. In einer von kremlnahen Aktivisten organisierten Lichtinstallation fliegen Kraniche aus Licht über die Fassade. Die Anwesenden schweigen und weinen.
Fast gleichzeitig werden die vier Tatverdächtigen in ein Moskauer Gericht gezerrt. Ihre Gesichter sind aufgequollen von Schlägen, einer trägt einen grossen Verband über dem Ohr. Er verlor die Hälfte davon im Verhör. Gezielt liessen die Sicherheitskräfte Bilder von brutaler Folter durchsickern: Einem Mann versetzten sie mit einem Draht Stromstösse gegen die Geschlechtsteile. Der jüngste Verdächtige wird direkt aus der Notaufnahme ins Gericht gebracht. Er verliert immer wieder das Bewusstsein, kann aber ein Schuldeingeständnis machen, wie alle.
Den Terror symbolisch bestrafen
Die Zurschaustellung erinnert an eine Teufelsaustreibung. Russlands Polizeistaat bestraft die Täter und versucht, so das Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Russlands Polizisten und Soldaten konnten den Anschlag weder verhindern noch die Terroristen stoppen. Die oppositionsnahe Zeitung «Nowaja Gaseta» schreibt von einem «gigantischen Fehlschlag der Terrorabwehr». Wladimir Putin habe in den letzten Jahren imaginäre Feinde wie die Ukraine bekämpft statt die wahren Bedrohungen.
Putin, seit einem Vierteljahrhundert Russlands unbestrittener Herrscher, muss deshalb Stärke demonstrieren. Der Geheimdienst FSB hat rasch elf Verdächtige verhaftet und verhört, grösstenteils aus Tadschikistan. Manche waren erst vor kurzem eingereist, andere befanden sich schon länger im Land. Ihre Motivation soll rein finanziell gewesen sein. Ein Unbekannter habe ihm Geld über das Internet geboten, sagt einer im Verhör. Der Auftrag: «Leute töten – egal, wen».
Wie glaubwürdig diese Aussagen unter Folter sind, bleibt für die nationalistischen Medien in Russland zweitrangig. Diese sind sich einig, dass solche «Tiere» keinen rationalen Gedanken folgen. Nach der Überzeugung der Propagandisten kamen die Täter nicht selber auf die Idee zum Anschlag. Stellvertretend für viele schreibt der Telegram-Kanal Dwa Majora, dass sie ein Instrument des ukrainischen, amerikanischen oder britischen Geheimdienstes sein müssten.
Es spielt in den Augen der patriotischen Verschwörungstheoretiker keine Rolle, dass sich der IS Khorasan (IS-K) zum Anschlag bekannt hat und sogar ein Video des Massakers veröffentlichte. All dies lasse sich inszenieren, schreibt der Kanal Rybar. Der IS sei immer ein «Medienprojekt» der Amerikaner gewesen und heute zu schwach, um einen so durchdachten Angriff zu organisieren. Selbst das Aussenministerium hält es für fragwürdig, dass der Westen so rasch auf den IS-K zeigt. Er wolle so von der Beteiligung der Ukraine ablenken.
Putins vage «ukrainische Spur»
Die Ablenkungsmanöver sind ebenso durchsichtig wie ambivalent: Wenn der Staat versagt, können dahinter nicht eigene Fehler stehen, sondern nur eine grosse internationale Verschwörung. In dieser Argumentation geht unter, dass der FSB selbst Anfang März eine IS-K-Zelle zerschlug. Auch die amerikanische Warnung vor einem unmittelbar bevorstehenden Anschlag ignorierte Putin. Die Sicherheitsvorkehrungen in der Crocus City Hall waren deshalb äusserst bescheiden.
Bei genauerer Betrachtung sind die Widersprüche und Leerstellen in den Ausführungen des Kremls zur Täterschaft durchaus spürbar. Sie zeigen sich auch in Putins Rede an die Nation am Samstag: Zwar sprach er von einer ukrainischen Spur und einem angeblichen «Fenster», das Kiew für die Terroristen an der Grenze habe öffnen wollen. Auch deutete er klar an, dass die Hintermänner im Nachbarland sitzen könnten. Doch direkt machte er den «kollektiven Westen» nicht verantwortlich.
Stattdessen sprach Putin davon, dass der «internationale Terrorismus» der wahre Feind sei. Dies war zumindest in der Vergangenheit ein Synonym für Islamisten. Fast vermitteln Staatsmedien den Eindruck, sie hätten sich noch nicht richtig auf eine offizielle Version festgelegt: Auch die «Fakten» auf der Website der Nachrichtenagentur Tass streuen Zweifel an der IS-Täterschaft, erwähnen aber keine Alternative. Putins Sprecher weigerte sich am Montag schlicht, auf die Frage einzugehen.
Hier zeigt sich ein Grunddilemma der russischen Propaganda, das schon im Ukraine-Krieg sichtbar wurde: Sie kann zwar Feinde definieren und westliche Erklärungen untergraben. Doch sie tut sich schwer damit, selbst eine kohärente Erzählung zu formulieren. Dies funktioniert gegen aussen gut. Bei inneren Konflikten und der Aufklärung eines für die Bevölkerung traumatischen Ereignisses wie des Terroranschlags stösst das Modell aber an Grenzen.
Forderung nach der Todesstrafe
Dies schliesst nicht aus, dass die Version der westlichen Untergrabung Russlands beim Volk auf Anklang stösst. Sie hat aus Sowjetzeiten eine lange Tradition. Doch selbst wenn momentan auch halbwegs ernstzunehmende Medien im Land durch die unsichere ideologische Lage wie gelähmt wirken bei der Kommentierung: Vorsichtig werden einzelne heikle Fragen andiskutiert – zu den Sicherheitsvorkehrungen im Gebäude, aber auch zum gesellschaftlichen Klima.
Meinungsführer sind auch hier die Nationalisten. Sie fordern die Wiedereinführung der Todesstrafe und agitieren gegen die angeblich mafiös organisierten Immigranten aus Zentralasien, die Sexualverbrechen verüben und den Armeedienst in der Ukraine scheuen würden. Es sind Diskussionen, die wie ein Déjà-vu wirken: Bereits vor zwanzig Jahren hatte die Konkurrenz durch Gastarbeiter aus dem Nordkaukasus und Zentralasien xenophobe Instinkte in Russland geweckt und gar Pogrome ausgelöst. Verschärfungen der Migrationsgesetze sollen nun bereits in Arbeit sein.
Die Sorge, dass der Terroranschlag diese Spannungen wieder verschärfen könnte, ist spürbar. Geschlossenheit zu markieren, ist zentral in einem Land, das Putin jüngst mit fast 90 Prozent der Stimmen «wiedergewählt» hat. Dennoch warnte der Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow am Wochenende schon vor Spaltungstendenzen: «Falsche Patrioten spielen mit den Gefühlen der Leute und rufen nach faschistischen Methoden», schrieb er. Dabei kämpfe man doch in der Ukraine gegen die Nazis.