In Moskau dominiert die Generation der 70-Jährigen. Noch ist es keine Greisenherrschaft wie zur Sowjetzeit. Doch das Problem verschärft sich, weil der Kreml einen Generationenwechsel scheut.
Im russischen Krieg gegen die Ukraine stehen sich zwei sehr verschiedene Länder gegenüber. Augenfällig sind nicht nur der Grössenunterschied sowie der Kontrast zwischen der Diktatur in Russland und der demokratischen Offenheit in der Ukraine. Markant unterscheiden sich auch die politischen Eliten. Während das Führungspersonal in Kiew relativ jung ist, dominiert in Moskau eine alte Garde, die bereits ein Vierteljahrhundert an der Macht ist.
Die pompöse Vereidigung von Präsident Wladimir Putin zu einer weiteren Amtszeit und die minimale Umbildung seiner Regierung haben dies in den vergangenen Tagen unterstrichen. Sofern der 71-jährige Putin durchhält, kann er nun bis mindestens 2030 weiterregieren. Er wäre dann mehr als 30 Jahre an der Macht, länger als alle Sowjetherrscher und die meisten russischen Zaren.
Verpasste Chance zur Verjüngung
Mit ihm klammert sich eine Schar von langjährigen Weggefährten an Ämter und Pfründen. Der innerste Kreis des Putin-Regimes wird von ehemaligen Geheimdienstlern und Gefolgsleuten aus Putins Heimat St. Petersburg dominiert. Zusammen mit ihm sind sie alt geworden. Die ergraute Führungsschicht blockiert zugleich den Aufstieg ehrgeiziger Vertreter nachfolgender Generationen, wie kürzlich der Kommentator Andrei Perzew hervorgehoben hat.
Die Neubildung der Regierung zum Auftakt von Putins fünfter Amtszeit hätte die Chance zu einer Verjüngung geboten. Doch der Staatschef hat sich dagegen entschieden. Zum einen sticht die Ernennung eines neuen Verteidigungsministers hervor. Der Wirtschaftswissenschafter Andrei Belousow ist jedoch selber schon 65 Jahre alt. Zum anderen wollte Putin offenbar verschiedene Machtclans ausbalancieren und platzierte zwei Söhne von Weggefährten in mittelhohe Ämter. Doch dies illustriert mehr den Einfluss der alten Garde als das Heranwachsen einer eigenständigen jüngeren Generation.
Auf den Schlüsselpositionen hat sich die Altersstruktur kaum geändert. Ein Blick auf den engsten Führungszirkel verdeutlicht das hohe Durchschnittsalter. Es beträgt bei Putin sowie den zehn für die Kriegsführung und die Sicherheitspolitik einflussreichsten Akteuren 69 Jahre. Die entsprechende Vergleichsgruppe in der Ukraine ist mit knapp 47 Jahren viel jünger.
Wer über wie viel Einfluss verfügt, ist eine Frage der Einschätzung. Berücksichtigt wurden für diesen Vergleich bei beiden Ländern jeweils der Präsident, der Ministerpräsident, die für Aussen- und Sicherheitspolitik zuständigen Minister und Spitzenfunktionäre sowie der höchste militärische Befehlshaber. Hinzu kommen einige Akteure, die in den jeweiligen Ländern als einflussreich bekannt sind.
So bekleidet der St. Petersburger Magnat Juri Kowaltschuk zwar kein Staatsamt, aber als langjähriger Freund des Präsidenten und als dessen mutmasslicher «Bankier» zählt er zum innersten Machtzirkel. Ein enger Berater ist auch der 72-jährige frühere Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew, dessen Karriere wie jene des Präsidenten im Leningrader KGB begonnen hat und an die Spitze des Geheimdiensts FSB führte. Wie der gleichaltrige Kowaltschuk hat Patruschew bei der jetzigen Regierungsumbildung die Beförderung eines Sohnes auf einen gewichtigen Posten erreicht. Ergänzt wird die Zehnerliste durch den mächtigen Chef der russischen Nationalgarde, Wiktor Solotow.
Auch in der Ukraine ist politischer Einfluss nicht objektiv messbar. Unbestritten ist aber die zentrale Rolle von Andri Jermak, der als Leiter des Präsidialbüros oft als zweitmächtigster Mann hinter Wolodimir Selenski beschrieben wird. Wichtige Funktionen für die Kriegsführung beziehungsweise die Rüstungswirtschaft üben ferner der Militärgeheimdienstchef Kirilo Budanow und der Industrieminister Olexander Kamischin aus. Beide sind weniger als 40 Jahre alt. Eine Ausnahme stellt der Oberbefehlshaber Olexander Sirski dar. In der ukrainischen Zehnergruppe ist der 58-Jährige mit Abstand der Älteste. Sonst wird der innerste Kreis um den 46-jährigen Präsidenten von Männern in den Vierzigern oder Anfang fünfzig geprägt.
In Russland ist diese Generation zwar ebenfalls in der Regierung vertreten, aber nicht auf machtpolitischen Schlüsselposten. Putin hat wiederholt Schritte unternommen, um den Generationenwechsel hinauszuzögern. So schaffte er die frühere Altersgrenze von 60 Jahren für Staatsbeamte ab und lockerte die Regeln mehrmals. Heute gilt eine Grenze von 65 und für höhere Beamte von 70 Jahren. Der Präsident darf diese Limite bei seinen Ernennungen jedoch ignorieren. Davon profitiert beispielsweise Aussenminister Sergei Lawrow, der trotz seinen 74 Jahren soeben im Amt bestätigt wurde.
Späte Sowjetzeit als abschreckendes Beispiel
Das Putin-Regime erhält damit zunehmend den Anstrich einer Gerontokratie. Das hohe Durchschnittsalter von 69 Jahren im engsten Führungszirkel ist ominös: Genau gleich hoch war 1981 das Durchschnittsalter des Politbüros der Kommunistischen Partei, kurz vor dem Tod des greisen Sowjetführers Leonid Breschnew. Der Schnitt hätte noch höher gelegen, hätte es in jenem ergrauten Kreis nicht auch einen 50-jährigen Jüngling namens Michail Gorbatschow gegeben.
Noch ist das Putin-Regime weit von der Verknöcherung der damaligen Kremlführung entfernt. Fähige – und eine halbe Generation jüngere – Technokraten wie Ministerpräsident Michail Mischustin oder die Zentralbankchefin Elwira Nabiullina halten die Wirtschaft am Laufen. Zudem sind bei der Führungsriege um Putin keine ernsten Gesundheitsprobleme erkennbar, im Unterschied zum Siechtum der Breschnew-Clique um 1980. Doch ohne Erneuerung wird die Überalterung fortschreiten und das Durchschnittsalter der Führungsgruppe im Laufe von Putins neuer Amtszeit auf 75 Jahre ansteigen.
Änderungen sind absehbar. Lawrow beispielsweise wird sich kaum noch lange halten können. Mit 20 Amtsjahren ist er einer der dienstältesten Aussenminister der russischen Geschichte. Auch bei anderen hohen Funktionären Putins fällt auf, dass sie nicht nur in vorgerücktem Alter stehen, sondern auch schon lange auf demselben Sessel kleben. Der Direktor des Inlandgeheimdienst FSB übt dieses Amt schon 16 Jahre aus, der Generalstabschef Waleri Gerasimow steht in seinem 12. Jahr. Für einen Militärführer ist der bald 69-jährige Gerasimow unüblich alt. Während etwa in den USA für Offiziere eine «Altersguillotine» von 64 Jahren gilt, verlängerbar auf 68 Jahre bei Generälen, hält der Kreml an Gerasimow fest – trotz dessen Fehlplanungen für die Invasion in der Ukraine.
Deutlicher Gegensatz zur Ukraine
In der Ukraine dagegen gibt es keine solchen Langzeitfunktionäre. Die Kiewer Elite ist mit Selenskis Wahl vor fünf Jahren an die Macht gekommen oder in der Zeit danach. Die untenstehende Grafik verdeutlicht den Unterschied zwischen den beiden Ländern anhand einiger wichtiger Ämter.
Eine jüngere Führung ist nicht automatisch ein Vorteil im laufenden Krieg. In Moskau sind gewiefte Machttaktiker mit immensen Ressourcen am Werk. Aber die vielen Fehleinschätzungen im Kreml über die Ukraine sind auch Ausdruck von Obsessionen einer abgeschotteten Führung, die alles am besten zu wissen glaubt. Die noch zur Sowjetzeit ausgebildete Putin-Generation dürfte zudem mehr Mühe haben, Impulse für rüstungstechnologische Innovationen zu geben, als die mit der Digitalisierung aufgewachsene Führung in Kiew. Das zeigt die Dynamik bei der Entwicklung neuer Waffensysteme in der Ukraine. Zudem wird sich die Überalterung in Moskau verschärfen, sofern Putin seine Personalpolitik nicht ändert.
Kürzlich machte er Schlagzeilen mit der Aussage, in Russland sei eine neue Elite entstanden, bestehend aus den «heldenhaften» Teilnehmern der «militärischen Spezialoperation» in der Ukraine. Die entsprechenden Offiziere und Funktionäre des Besetzungsregimes haben durchaus die Chance, dereinst in hohe Machtpositionen aufzusteigen. Aber noch sind Putins Worte reine Rhetorik und lässt der Generationenwechsel auf sich warten. Mehr denn je gleicht Putin nach Ansicht des Politologen Nikolai Petrow einem Zaren – mit dem wichtigen Unterschied allerdings, dass er anders als die Zaren keinen Plan für seine Nachfolge habe.
Bilder: Reuters (5), Imago
Die beiden Führungszirkel im Vergleich
Berücksichtigt wurden die folgenden Personen, in Klammern das Alter, jeweils auf- oder abgerundet:
Russland
- Präsident Wladimir Putin (72)
- Ministerpräsident Michail Mischustin (58)
- Verteidigungsminister Andrei Belousow (65)
- Aussenminister Sergei Lawrow (74)
- Innenminister Wladimir Kolokolzew (63)
- FSB-Direktor Alexander Bortnikow (73)
- Sicherheitsratssekretär Sergei Schoigu (69)
- Generalstabschef Waleri Gerasimow (69)
- Kommandant der Nationalgarde Wiktor Solotow (70)
- Präsidentenberater Nikolai Patruschew (73)
- Bankier Juri Kowaltschuk (73)
Ukraine
- Präsident Wolodimir Selenski (46)
- Ministerpräsident Denis Schmihal (49)
- Verteidigungsminister Rustem Umerow (42)
- Aussenminister Dmitro Kuleba (43)
- Innenminister Ihor Klimenko (52)
- Chef des Inlandgeheimdiensts SBU Wasil Maljuk (41)
- Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates Olexander Litwinenko (52)
- Oberbefehlshaber Olexander Sirski (59)
- Leiter des Präsidialbüros Andri Jermak (52)
- Chef des Militärgeheimdiensts HUR Kirilo Budanow (38)
- Minister für strategische Industrien Olexander Kamischin (40)