Der Republikaner aus Arizona wehrte 2020 Trumps Versuch ab, das Wahlresultat umzustürzen. Das kostete den Mormonen, Künstler und siebenfachen Vater das Amt. Die Schicksalsgeschichte eines integren Politikers.
Vor vier Jahren stand Rusty Bowers mitten im Auge des politischen Sturms, als Trump seine Abwahl verhindern wollte. Heute verbringt der 71-jährige ehemalige Speaker des Repräsentantenhauses von Arizona die meiste Zeit in seinem Atelier und widmet sich der Kunst.
Sein bescheidenes Haus liegt auf einem Hügel am Rand des weiten Tals, in dem sich Arizonas Hauptstadt Phoenix ausbreitet. Bowers hat es im Stil der indigenen Pueblo-Architektur angefertigt, mit eigenen Händen, Stück für Stück: «Ich habe mit einem Schlafzimmer begonnen. Wir hatten fünf Kinder und zwei Pflegekinder», erzählt der grossgewachsene Mormone mit einer warmen Bassstimme.
Bowers poliert gerade eine eben fertiggestellte Büste aus Bronze. «Erkennt man, wer es ist?», fragt der Künstler. Zweifellos, es ist Arizonas früherer Senator, der republikanische Präsidentschaftskandidat und Trump-Kritiker John McCain. Er starb 2018 im Amt. Nostalgische Republikaner verehren ihn als vorbildlichen Politiker, der das Wohl des Landes stets über die Interessen seiner Partei stellte – «country over party». So war er 2017 einer von drei republikanischen Senatoren, die mit den Demokraten stimmten, um Barack Obamas Gesundheitsreform zu stützen.
20 000 Hass-Mails pro Tag
Ähnlich stellte sich Bowers gegen seine eigene Partei und Donald Trump. Zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen 2020 führte er die Republikaner im Repräsentantenhaus von Arizona an. Der Sieger hiess Joe Biden: In Arizona gewann der Demokrat mit einem minimalen Vorsprung von 10 457 Stimmen. Alle 11 Elektorenstimmen gingen an Biden.
Zwei Wochen nach den Wahlen erhielt Bowers einen Anruf aus dem Weissen Haus. Trump und sein Anwalt Rudy Giuliani erzählten ihm von einem grossen Betrug in Arizona. Sie hätten Wahlzettel von 200 000 irregulären Migranten und 6000 verstorbenen Bürgern gefunden. Der Präsident verlangte von Bowers, sofort eine Anhörung in Arizonas Parlament einzuberufen. Deren Ziel sollte es sein, das Wahlresultat zu kassieren und Trump die Elektorenstimmen des Gliedstaats zuzuschreiben. Doch Bowers fehlten die Beweise für einen Wahlbetrug. Er lehnte ab. Auch als Trump um Weihnachten herum nochmals anrief, sagte er ihm: «Ich habe Sie gewählt, ich habe für Sie gearbeitet, ich habe für Sie Wahlkampf betrieben, ich werde einfach nichts Illegales für Sie tun.»
Die Republikaner erklärten Bowers zum Verräter. Er erhielt Todesdrohungen und wüste Beschimpfungen. «Es waren täglich 20 000 E-Mails und 10 000 Sprachnachrichten.» Vor seinem Haus protestierten teilweise bewaffnete Demonstranten, während seine todkranke Tochter Kalcey drinnen aufgrund eines Leberversagens um ihr Leben kämpfte. Kurz nach dem Sturm auf das Capitol im Januar 2021 verstarb sie.
Bowers hielt dem Druck stand. Im Juni 2022 sagte er im Kongress in Washington vor der Untersuchungskommission zu Trumps «Putschversuch» aus. Die Republikanische Partei in Arizona rügte Bowers für seinen Auftritt aufs Schärfste. Die Parteivorsitzende Kelli Ward twitterte: «Bowers ist kein angesehener Republikaner mehr, und wir rufen die Republikaner dazu auf, ihn bei den Vorwahlen zu ersetzen.» Wegen einer Amtszeitbeschränkung durfte Bowers bei den Zwischenwahlen 2022 nicht mehr für das Repräsentantenhaus kandidieren. Deshalb bewarb er sich für einen Sitz in Arizonas Senat. Er scheiterte jedoch – wie von Ward gewünscht – in der Primärwahl gegen den Republikaner David Farnsworth. Dieser bezeichnete Trumps Wahlniederlage als eine grosse Verschwörung, die «vom Teufel selbst» orchestriert worden sei.
Freiheit beginnt mit der Verantwortung vor Gott
Der Widerstand gegen Trump beendete Bowers’ politische Karriere. Seinen Bewunderern gilt er deshalb als Märtyrer. Doch bei unserem Gespräch auf der Terrasse seines Hauses sagt er: «Ich bin kein Held. Ich habe nur getan, was ich tun sollte.» Seine Furcht vor Gott liess nichts anderes zu. «Meine Entscheidungen haben ewigwährende Konsequenzen», meint Bowers, der in jüngeren Jahren in Mexiko als Missionar tätig war.
Bowers war in der Politik ein Quereinsteiger. Er sei nie ein «Partei-Junge» gewesen, betont er. Die pure Not machte den Künstler zum Volksdiener. Die Universität in Utah, wo er seinen Bachelor mit einem Abschluss in Aquarellieren gemacht hatte, bot ihm eine Stelle an. Doch dafür hätte er zunächst einen Master an Arizonas staatlicher Universität machen sollen. Dazu kam es nicht: «Sie lehnten mein Portfolio ab.» Seine Kunst sei zu kommerziell, zu wenig ausgefallen, habe man ihm gesagt. «Ich brauchte Arbeit, ich hatte sieben Kinder und baute an diesem Haus.»
In diesem Moment – es war das Jahr 1992 – überredete ihn die Parteivorsitzende seines Wahlbezirks, für Arizonas Repräsentantenhaus zu kandidieren. Bowers gewann die Wahl und viele andere Wahlen danach auch.
Für Bowers steht die gesamte Weltpolitik in einem spirituellen Zusammenhang. «Die amerikanische Verfassung ist göttlich inspiriert», so glaubt er. Sie solle ein Licht für die Welt sein und andere Länder ermutigen, dem Beispiel der USA zu folgen. Er verstehe nicht, warum so viele Republikaner heute gegen die Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland seien: «Haben sie vergessen, dass die Franzosen uns bei unserer Revolution geholfen haben?»
So göttlich die amerikanische Verfassung auch sein möge, sei sie letztlich doch nur ein Papier. Ihre Existenz beruhe auf der Eigenverantwortung jedes Einzelnen. «Du triffst die Wahl, dich selbst zu kontrollieren.» Bowers ist überzeugt: Wenn die Bürger sich gegenüber Gott nicht mehr verpflichtet fühlten und sich selbst im Zaum hielten, sei die amerikanische Republik in Gefahr. Dann könne ein «despotischer Albtraum» drohen.
Die Macht der Abtreibungsfrage
In seinen Augen ist Trump eine Gefahr für die Demokratie. Doch dieser allein könne sie nicht zerstören. Inzwischen gebe es viele Nachahmer von Trumps boshaftem politischem Stil. «Ich mag es nicht, dass man gemein sein muss, um als Konservativer zu gelten.» Aber viele Leute hätten gesagt: «Ja, das ist genau das, was wir wollen.» Und deshalb will Bowers auch ein Abgleiten in eine Autokratie nicht ausschliessen, sollte Trump die Wahl im November gewinnen. «Alles kann passieren, wenn wir von den Regierenden keinen Anstand einfordern.»
Bowers fordert Anstand und Ehrlichkeit. Im November wird er deshalb nicht für Trump stimmen. Der ehemalige Präsident habe bereits versucht, sich über die Verfassung hinwegzusetzen, nun traue er ihm nicht mehr. «Seine grösste Schwäche ist, dass es ihm nur um sich selbst geht.» Wenn die Vergangenheit der Prolog für eine zweite Amtszeit sei, warum sollte er nicht eine dritte anstreben, wenn er eine Möglichkeit dafür sehe?
Aber auch Kamala Harris ist für Bowers unwählbar. Sosehr ihm Trumps Persönlichkeit missfällt, war er von dessen Politik begeistert: «Seine Arbeit in der ersten Amtszeit war phantastisch.» Die wirtschaftliche Deregulierung sei erfolgreich gewesen. Wichtig für ihn war auch die Ernennung von drei konservativen Richtern für den Supreme Court. Mit ihrer Hilfe kippte das Oberste Gericht im Juni 2022 auf nationaler Ebene das Recht auf Abtreibung.
Er lehne Schwangerschaftsabbrüche nicht in allen Fällen ab, sagt Bowers. Doch eine Abtreibung sei «wie ein Mord». Es könne kein unbegrenztes Recht darauf geben. Er und seine Familie lebten diese Überzeugung. «Meine Kinder adoptieren. Sie haben Kinder aus Ghana, Côte d’Ivoire, den Philippinen und Mexiko. Das sind meine Enkel.» Dass Harris auf nationaler Ebene für ein Recht auf Abtreibung einsteht, scheint das grösste Hindernis für Bowers zu sein, um für sie zu stimmen. Zudem fehle es ihr an tiefen Überzeugungen. Sie richte ihre Politik nach der gerade herrschenden Windrichtung aus. Er werde deshalb den Namen eines «guten und soliden Bürgers» auf den Wahlzettel schreiben, sagt Bowers.
Vor vier Jahren bestärkte ihn sein Glaube darin, sich gegen Trump aufzulehnen. Nun lässt es ihm sein Glaube nicht zu, für Trumps Kontrahentin zu stimmen. Aber ebnet er damit – wie andere christlich-konservative Wähler – nicht Trump den Weg zurück ins Weisse Haus? Bowers wehrt sich gegen diesen Vorwurf. Die beiden Parteien böten ihm keine wählbaren Kandidaten, und er werde nicht das geringere Übel wählen: «Auch das geringere Übel ist ein Übel.»
Möglicherweise beruhigt sich Bowers aber auch mit dem Gedanken, dass Trump die Wahl verlieren könnte. Dieser verfüge zwar über eine elektrisierte und wütende Basis in der Republikanischen Partei. Aber eine erhebliche Zahl unabhängiger Wähler habe weniger Nachsicht mit ihm. Allerdings scheint Bowers der eigenen Prognose doch nicht ganz zu trauen und flicht ein: «Wer sich auf die Kristallkugel verlässt, wird lernen, Glasscherben zu essen.»