Die britische Regierung bewahrt das letzte Stahlwerk im Land vor dem Untergang und erhebt schwere Vorwürfe gegen die chinesischen Besitzer. Doch hat die Labour-Regierung eine langfristige Strategie?
Es war eine dramatische Rettungsaktion: Am Wochenende berief die Labour-Regierung von Keir Starmer das Parlament in Westminster kurzfristig aus den Osterferien zurück. Zum ersten Mal seit dem Falkland-Krieg 1982 tagte das Unterhaus an einem Samstag. Innert weniger Stunden beschlossen die Abgeordneten ein dringliches Gesetz, das der Regierung einen Blanko-Check dafür gibt, das letzte britische Werk zur Produktion von Primärstahl in Scunthorpe im Norden Englands vor dem Untergang zu bewahren.
Noch ist das Stahlwerk nicht verstaatlicht, doch befindet es sich faktisch bereits unter staatlicher Kontrolle. Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds entsandte seine Beamten nach Scunthorpe, die am Montag mit notfallmässigen Zahlungen versuchten, die Anlieferung von Kohle und anderen Rohstoffen sicherzustellen. Zudem erwirkte die Regierung sofortige Wechsel in der Chefetage des Unternehmens British Steel. Das Ziel der Hauruckübungen: Die beiden Hochöfen in Scunthorpe sollen unbedingt weiterlaufen, da es laut Experten selbst nach einer temporären Abschaltung technisch schwierig wäre, den Betrieb ohne Schaden wieder hochzufahren.
Hohe Kosten und Trumps Zölle
Die Labour-Regierung erhebt schwere Vorwürfe gegen das chinesische Industriekonglomerat Jingye, das British Steel 2019 übernommen und 1,2 Milliarden Pfund (1,3 Milliarden Franken) investiert hatte. Reynolds erklärte, die chinesischen Eigentümer hätten das Angebot der Regierung abgelehnt, die Kosten für den Kauf der Rohstoffe zu übernehmen. Dies hätte eine Aufrechterhaltung des Betriebs ermöglichen sollen, bis eine Anschlusslösung für das Werk gefunden worden wäre.
Gewerkschafter behaupteten gar, Jingye habe Rohstoffe aktiv verkauft und mit Sabotage-Akten versucht, die Produktion zum Stillstand zu bringen und so Grossbritannien zum Import von billigem chinesischem Stahl zu zwingen. Ein Sprecher des chinesischen Aussenministeriums erklärte, Peking verfolge das Ringen um die Zukunft des Stahlwerks und warne vor einer «Politisierung» der Angelegenheit.
Jingye stellt sich auf den Standpunkt, dass die Produktion von direkt aus Eisenerz gewonnenem Primärstahl in Grossbritannien nicht mehr rentabel sei. Das Werk in Scunthorpe schrieb zuletzt Verluste von 700 000 Pfund pro Tag, was sich auf rund 250 Millionen Pfund pro Jahr summiert.
Neben den vergleichsweise hohen Löhnen in England haben in den letzten Jahren auch die sehr stark gestiegenen Energiekosten die Produktion erheblich verteuert. Nun kommen die von Donald Trump verhängten Zölle für Stahl- und Aluminium-Importe von 25 Prozent dazu. Diese drohen British Steel vor allem indirekt zu belasten, da befürchtet wird, dass günstiger Stahl aus Asien nun statt in die USA nach Grossbritannien fliessen könnte.
Geplante Aufrüstung dank britischem Stahl?
Dass die britische Regierung das Stahlwerk unbedingt vor dem Untergang bewahren will, hat mehrere Gründe. So geht es um den Erhalt von 3500 Arbeitsplätzen in den traditionellen Stammlanden der Labour-Partei im Norden Englands, wo die Sozialdemokraten bei den anstehenden Lokalwahlen von der rechtsnationalen Reform-Partei von Nigel Farage herausgefordert werden.
Zudem ist das Hochofenwerk in Scunthorpe das letzte im Vereinigten Königreich, das aus Eisenerz und Koks Primärstahl produzieren kann. Ohne das Werk wäre Grossbritannien das einzige Land der Gruppe der sieben wichtigsten Industrienationen (G-7), das keinen Primärstahl mehr herstellt, und wäre in Zeiten geopolitischer Spannungen ganz abhängig von Stahlimporten.
Primärstahl gilt als breiter einsetzbar als Stahlprodukte aus Elektrolichtbogenöfen, die Stahlschrott einschmelzen. Die industriellen Anwendungen reichen vom Bau von Häusern, Schiffen und Eisenbahnen bis zur Rüstungsindustrie. Grossbritannien hat jüngst eine erhebliche Erhöhung der Investitionen in die Verteidigung beschlossen, wobei die zusätzlichen Waffen zu einem guten Teil von der heimischen Industrie produziert werden sollen.
Kaum politischer Widerstand
Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds beteuert, die Regierung suche nach privaten Investoren, die das Werk übernehmen könnten. Da das Interesse sehr gering zu sein scheint, gilt eine Verstaatlichung inzwischen als wahrscheinlichstes Szenario. Damit schlösse sich für British Steel ein Kreis: Das Stahlwerk wurde 1967 unter Labour-Premierminister Harold Wilson verstaatlicht und 1988 unter der Tory-Regierungschefin Margaret Thatcher privatisiert. Nach mehreren Besitzerwechseln könnte es nun also wieder in Staatsbesitz übergehen.
Politischer Widerstand dagegen zeichnet sich nicht ab. Während die konservative Opposition einen Übergang in Staatsbesitz als «letztes Mittel» zu schlucken bereit ist, forderten Farages rechtsnationalistische Reform-Partei und die Grünen sogar eine sofortige Verstaatlichung des Werks. Premierminister Starmer gefällt sich in der Rolle des Retters, der die stolze industrielle Tradition des Landes wiederaufleben lässt.
Noch nicht erkennbar ist derweil eine klare mittel- bis langfristige Betriebsstrategie. Zwar dürfte das Stahlwerk in seiner derzeitigen Verfassung praktisch wertlos sein, weshalb Jingye keinen hohen Verkaufspreis erwarten kann. Doch gingen die laufenden Verluste nun auf Kosten der Staatskasse – zu einem Zeitpunkt, zu dem die Finanzlage des Landes ohnehin schon sehr angespannt ist.
Die Regierung betont, es gebe mit den Rüstungsfirmen, dem Eisenbahnnetz oder der Fahrzeug- und der Bauindustrie genügend Abnehmer für britischen Stahl. Wie die Regierung die hohen Produktionskosten senken und die emissionsreiche Produktion von Primärstahl mit ihren Klimazielen vereinbaren will, bleibt aber fraglich.
Denkbar sind protektionistische Massnahmen, um die heimische Industrie gegenüber Stahlimporten konkurrenzfähiger zu machen, sowie der Versuch einer Transition hin zu einer auf Elektrizität basierten Produktion. Doch solange die überaus hohen Strompreise in Grossbritannien nicht sinken, droht die britische Stahlindustrie auch im Vergleich zur europäischen Konkurrenz im Hintertreffen zu bleiben.