Ein Salzwasserkrokodil im Kakadu-Nationalpark schwimmt direkt auf einen zu. Bild: Imagebroker/Imago
An kaum einem anderen Ort der Welt sieht man so viele grosse Krokodile aus nächster Nähe wie im australischen Kakadu-Nationalpark. Ein Gänsehautmoment.
«Fahrt unbedingt zu Cahill’s Crossing, am Fluss, da könnt ihr auf jeden Fall einige grosse Salzwasserkrokodile sehen», erklärte uns der Ranger im Kakadu-Nationalpark. «Wenn ihr Glück habt, sind sie gerade beim Mittagessen.»
Wir wussten nicht, welch animalisches Spektakel uns dort erwartete, als wir aufbrachen. Und wir ahnten nicht, wie schnell eine Raubtiergruppe eine idyllische Postkartenlandschaft in einen blutgetränkten Fluss verwandelt.
Mehr als dreissig Tiere in Kampfformation
Zugegeben: Menschen haben etwas nachgeholfen. Sie haben den Krokodilen einen perfekten Tisch für eine Fressorgie gebaut. In den 1950er Jahren wurde nämlich eine primitive Betonpiste und somit eine künstliche Furt, rund 30 Meter lang und nur etwas breiter als ein Ultra-Geländewagen, durch den East Alligator River im Kakadu-Nationalpark in Nordaustralien angelegt. Die Piste verbindet das Arnhemland mit dem Kakadu-Park und somit auch dem Städtchen Jabiru mit Schule und Krankenstation.
Als wir auf der Aussichtsplattform knapp oberhalb dieser Piste eintreffen, scheint die Natur den Atem anzuhalten. Die Sonne brennt aus einem knallblauen Himmel auf den nahezu spiegelglatten, milchig grünen Fluss. Keine Welle plätschert, keine Brise rauscht in den Papierrinden- und Eukalyptusbäumen am Ufer. Von der Strömung Richtung Meer ist kaum etwas zu sehen. Einzig ein weisser Reiher stakst gemächlich über die Piste.
Dann sehen wir es: Direkt unter uns liegt ein schätzungsweise vier Meter langes, gut genährtes «Saltie», wie Salzwasserkrokodile in Australien genannt werden. Regungslos, die Augen geschlossen. Nach wenigen Minuten öffnet es weit sein Maul und zeigt uns hellrosa Zahnfleisch und nadelspitze Zähne. Unwillkürlich treten wir vom Geländer zurück.
Urplötzlich kommt Bewegung in den Fluss. Wie U-Boote gleiten immer mehr Krokodile nahezu lautlos auf die Betonpiste zu. Sie machen kaum Wellen, man sieht nur die Spitzen der Hornplatten auf Rücken und Schwanz, die Augen und Nasenlöcher. Als wir bei dreissig Tieren sind, hören wir mit dem Zählen auf.
Drei grosse Salties, schätzungsweise an die fünf Meter lang, verharren direkt an der Pistenkante – mit respektvollem Abstand zueinander. Alle anderen lauern verteilt im Fluss, Maul Richtung Strasse. Eine beeindruckende Kampfformation.
Gnadenloser Kampf um Fische
Das Wasser des Flusses steigt. Es ist die Flut aus dem rund 50 Kilometer entfernten Ozean. Und mit ihr kommen Schwärme von Barramundi-Fischen. Als die erste Wasserwelle über die Piste schwappt, schnappen die vordersten Krokodile zu. Fische springen in hohem Bogen aus dem Wasser.
Sekunden später bricht das grosse Fressen an. Die Reptilien paddeln herum und springen aus dem Fluss, mit weit geöffneten Mäulern, um die Fische einzufangen. Mit den scharfen Eckzähnen nageln sie die zappelnden Barramundi im Maul fest. Blut läuft aus den Krokodilmäulern in den Fluss. Kommen sich Konkurrenten zu nahe, werfen sie sich aufeinander, beissen einander und schlagen mit dem muskulösen Schwanz auf den Gegner ein.
Manchmal hängt der Fisch quer, dann wirft das Krokodil mehrmals den Kopf nach hinten, bis der Fang in den Schlund rutscht. Als ob sie vom Tourismusamt dafür bezahlt würden, schwimmen manche Reptilien mit der aus dem Maul hängenden Beute bis direkt unter die Besichtigungsplattform, stützen sich mit den Vorderbeinen auf dem matschigen Uferstreifen ab und zermalmen den Fisch direkt unter unseren Füssen.
Krokodile mit Peace-Zeichen
Klatschen, Rauschen und Knacken. Der Fluss ist zu wilden Strudeln aus braunen Wellen geworden. Da sie nichts mehr sehen, gleiten die Krokodile nun mit gespreizten Vorderbeinen durch die Brühe, drei Krallen ragen heraus. Unter den Beinen haben die Tiere Sensoren, die Bewegungen im Wasser wahrnehmen und mit denen sie so die Beute orten. Von oben sehen die suchenden Salties schaurig-lustig aus, als ob sie mit dem Peace-Zeichen die Fische einlullen wollten.
Der weisse Reiher überwacht das Geschehen auf einem Steinblock neben der mittlerweile völlig überspülten Strasse. Zappelt sich ein Fisch mit letzter Kraft aus einem Krokodilmaul, pikst er ihn mit seinem spitzen Schnabel auf. Ein Weisskopfseeadler ist sogar noch gewitzter. Er kreist über dem Spektakel und schnappt sich ab und an einen zwischen den Raubtieren verzweifelt herumspringenden Fisch.
Nach gut einer Stunde ist das Festmahl beendet. Die Oberfläche des Flusses ist wieder glatt. Die Krokodile sind eins neben dem anderen auf dem Uferstreifen angelandet. Dösend verdauen sie. Bis zur nächsten Flut.
Als wir uns am Nachmittag mit einem Aborigine-Guide in einem Motorboot auf den Fluss wagen, öffnet keines der Salties auch nur ein Auge beim Vorbeituckern. Hätten wir sie nicht beim Mittagessen erlebt, könnte man meinen, da lägen Attrappen. Kurz flitzt der Gedanke durch meinen Kopf, was passieren würde, wenn ich jetzt ins Wasser fiele. An Cahill’s Crossing sind Menschen den Reptilien zum Opfer gefallen, die sich trotz den riesengrossen Warnschildern auf die Piste gewagt haben.
Einst vom Aussterben bedroht, haben sich die Bestände erholt
«Es gibt rund 10 000 Salties im Kakadu-Park», erzählt der Guide. «Vor einigen Jahrzehnten waren sie wegen der begehrten Lederhaut drastisch dezimiert. Anfang der 1970er Jahre wurden sie in Nordaustralien unter Schutz gestellt, sie dürfen also nicht mehr gejagt werden.» Die Bestände haben sich gut erholt. Wenn es an einem Ort zu viele gibt, regeln sie das wie seit Jahrmillionen auf ihre Art: Sie fressen sich gegenseitig.
Vor rund 200 Millionen Jahren haben sich aus den Archosauriern die Urkrokodile entwickelt. Fossilienfunde legen nahe, dass die damaligen Tiere den heutigen sehr ähnlich waren. Das zeigt, dass diese Reptilien schon sehr früh in der Evolution perfekt an ihre Umgebung angepasst waren. Die heutigen Krokodile sind also ein Gruss aus sehr ferner Vergangenheit.
Eigentlich ist die Bezeichnung Salzwasserkrokodil etwas irreführend. Denn dieses Raubtier lebt sowohl im Meer als auch in Brack- oder Süsswasser. Es ernährt sich nicht nur von Fischen, sondern reisst auch Säugetiere, sogar Wasserbüffel, die in der Dämmerung am Flussufer trinken. Die biologische Bezeichnung lautet Leistenkrokodil.
Die Trockenzeit, die in Nordaustralien von Mai bis Oktober dauert, ist die ideale Zeit, um Salties im Kakadu-Park und seiner Nachbarschaft zu beobachten. Dann trocknen viele kleine Seen und Wasserlöcher aus, es gibt kein überschwemmtes Buschland an den Flüssen. Die Reptilien konzentrieren sich in den grösseren Flüssen. Auf mehreren werden Erkundungstouren angeboten, so dass man den Salties fast auf Armlänge nahe kommen kann.
«Die eherne Regel lautet: nie und nimmer ins Wasser gelangen», das bläute einem jeder Guide im Viertelstundentakt ein. «Be crocwise: Schon einen Arm über die Reling hängen ist Irrsinn, da Salties aus dem Wasser heraus mehrere Meter hoch springen können.»
Wanderer tun gut daran, bei jedem Gewässer zehn Meter Abstand zur Wasserkante einzuhalten. Denn Salties sind auch an Land unerwartet schnell. «Wenn ihr doch einmal aus Versehen eines aus der Nähe trefft, lauft Zickzack, das könnte sie verwirren», wurde uns vom Nationalpark-Ranger eingeschärft. Zum Glück mussten wir das nicht ausprobieren.
Wir schwimmen im Krokodilsee
Allen Warnungen zum Trotz steigen wir einige Tage später doch in ein Gewässer. Denn einige Seen, meist unter Wasserfällen, werden von Rangern kontrolliert und sind bei Krokodilfreiheit zum Baden freigegeben. Dort ein- oder ausleitende Flussarme sind mit schweren armdicken Metallstäben verschlossen, so dass kein Saltie hineinschwimmen kann.
Aber ein ganz unbeschwertes Vergnügen sind auch diese Seen nicht. Denn hier wohnen die «Freshies». Das sind Krokodile, die ausschliesslich in Süsswasser leben. Sie sind rund zwei Meter kleiner als die Salties. Und angeblich scheu. «Nähert man sich einem Freshie beim Schwimmen, dann haut das in der Regel ab, bevor ihr es gesehen habt», versicherten uns die Ranger.
Aber was heisst «in der Regel»? Ganz harmlos sind nämlich auch die Freshies nicht. Wenn sie sich bedrängt fühlen, verteidigen sie sich. Man sollte daher nur via offizielle Treppen oder Stege in einen See, nie einfach durchs Gebüsch. Im August und September legen die Weibchen die Eier in Sandlöcher am Flussufer und verteidigen ihre Gelege. Daher sind sandige Uferstellen für uns tabu.
Wir sahen zwar kein Freshie, aber ihre Spuren im Sand. So ganz entspannten wir daher nicht unter dem wunderbaren Prasseln des erfrischenden Wasserfalls, bei mehr als 35 Grad Lufttemperatur eine wahre Wonne. Aber offensichtlich hatten alle Freshies verstanden, dass wir nur schwimmen, sie aber auf keinen Fall boxen wollten.