Mitra Hejazipour ist internationale Schachgrossmeisterin. Seit sie das iranische Regime kritisiert hat, kann sie nicht mehr in ihr Heimatland Iran zurückkehren. Nun kämpft sie im französischen Exil für die Freiheit iranischer Frauen.
2019 entschloss sich Mitra Hejazipour, ihren Hijab in ihrem Hotelzimmer zu lassen, ein Entschluss mit gewaltigen Konsequenzen. Als erste iranische Nationalspielerin trat sie zur Weltmeisterschaft im Blitzschach mit offenen Haaren an. Kurz darauf wurde sie aus dem iranischen Team ausgeschlossen und konnte nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren. Seither lebt Hejazipour im französischen Exil und setzt sich für die Rechte von Frauen in Iran ein.
Jüngst wurde Mitra Hejazipour vom französischen Magazin «L’ Express» mit dem Prix de la Liberté ausgezeichnet. Jedes Jahr zeichnet das Magazin die fünf einflussreichsten Personen des Jahres aus. Zu den diesjährigen Preisträgern gehören der Präsident Litauens, Gitanas Nauseda, der für seine Unterstützung der Ukraine ausgezeichnet wurde, und der Historiker Yuval Noah Harari, der den Prix de la Transformation erhielt.
2019 sorgten Sie während der Weltmeisterschaft im Blitzschach weltweit für Aufsehen. Sie waren die erste Frau, die für das iranische Nationalteam spielte und ohne Hijab auftrat. Woher nahmen Sie den Mut?
Schach war mein Ausweg, mein Entkommen. Ich wuchs in Mashhad auf, einer sehr religiösen Stadt im Nordosten Irans. Die Gesellschaft ist von Religiosität und islamischen Regeln durchdrungen. Schach, mit seiner strengen Logik, war mein Ausweg aus dem Wahnsinn dieser Gesellschaft. Das Letzte, was man in religiösen Gesellschaften findet, ist Logik.
Seither leben Sie im Exil. Was wäre Ihnen widerfahren, wenn Sie zurückgekehrt wären?
Ich hätte ein Geständnis ablegen müssen, in dem ich mein Bedauern ausdrücke. Ich hätte unterschreiben müssen, dass nicht ich es gewesen sei, die den Hijab abgelegt habe, dass ich verrückt sei. Kurz: Ich hätte mich selbst beleidigen und meinen Werten abschwören müssen. Aber ich wollte weiter kämpfen.
Wie begann Ihre Leidenschaft für das Schachspiel?
Ich spiele, seit ich fünf Jahre alt bin. Anfangs sah ich meinem Vater beim Spielen zu. Er wollte, dass ich eine grosse Schachspielerin werde, er wollte ein besseres Leben für mich. In Iran lebt man isoliert, es herrscht Zensur. Besonders das Leben von Mädchen und Frauen ist eingeschränkt. Ohne die Einwilligung des Vaters oder des Ehemanns geht gar nichts. Man ist buchstäblich Bürgerin zweiter Klasse.
Der Wunsch Ihres Vaters scheint in Erfüllung gegangen zu sein.
Dank meiner Schachkarriere reiste ich viel, lernte andere Kulturen kennen. Ich sah, wie Frauen in anderen Ländern lebten, wie sie ihre Freiheit genossen. Jedes Mal, wenn ich Iran verliess, bekam ich Eindrücke von anderen möglichen Leben.
Gab es ein spezielles Ereignis, das Sie politisiert hat?
Es war ein Prozess, der in meiner Kindheit begann und mit der Zeit intensiver wurde. Ich konnte nicht länger ignorieren, wie das Regime Frauen unterdrückte. Die Frauenbewegung «Frauen, Leben, Freiheit» hat mich stark beeinflusst. Aber auch der Mut und der Widerstand vieler anderer iranischer Frauenbewegungen, die nach der Revolution 1979 aufgekommen waren. Da das Regime sie hart unterdrückte, wurden sie in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es dauerte jedoch Jahre, bis ich den Mut fand, ein Statement zu machen. Wenn man sieht, wie sehr Menschen und insbesondere Frauen unterdrückt werden, kann man das nicht mehr vergessen. Irgendwann muss es raus, man muss sich exponieren.
Ein erstes Mal gingen Sie 2018 an die Öffentlichkeit.
Ich postete ein Foto auf Instagram, auf dem ich ohne Hijab zu sehen war. Ich erhielt Beleidigungen, meine Familie wurde unter Druck gesetzte. Ich sah mich gezwungen, das Foto zu löschen. Den richtigen Bruch mit meinem Heimatland vollzog ich, als ich 2019 ohne Hijab zu dem Blitzschachturnier in Moskau antrat.
Wie steht es heute um die Situation der Frauen in Iran?
Seit September 2022, seit dem Erstarken von «Frauen, Leben, Freiheit», kann das Regime nicht mehr zurück. Auch wenn es versucht, den Wandel rückgängig zu machen: Selbst für die repressivsten aller Regime ist es unmöglich, einen gesellschaftlichen Erdrutsch zu stoppen. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt das Regime ab, sie ist müde. Selbst die Hardliner sind seit den Angriffen Israels entmutigt.
Wie wird sich die Situation in Iran entwickeln?
Ich bin überzeugt, dass das Regime fallen wird, die Frage ist nur, wann. Wie Hannah Arendt in ihren Analysen zum Ursprung totalitärer Herrschaft schrieb: Totalitäre Regime mögen stabil erscheinen, aber sie fallen auf einen Schlag.
Ihr Ausweg aus dem autoritären iranischen Regime war Schach, ein männlich dominierter Sport. Wie steht es um Frauen in der Schachwelt?
Die Situation der Frauen im Schach ist weder rosig noch völlig negativ. Es nehmen immer mehr Frauen an prestigeträchtigen Turnieren teil, wie dem Tata-Steel-Schachturnier in den Niederlanden. Und der französische Schachverband hat kürzlich gleiche Preisgelder für männliche und weibliche Nationalspieler angekündigt. Das ist ein wichtiger erster Schritt in Richtung Chancengleichheit. Es gibt Hoffnung auf eine Verbesserung der Stellung der Frauen, wenn sich der Weltschachverband Fide und die nationalen Verbände dafür einsetzen.
Warum ist die Gleichstellung im Schach so ein zäher Prozess?
Schach wurde in Iran und Indien entwickelt und war jahrhundertelang Königen, Aristokraten und Männern vorbehalten. Während der Renaissance in Italien und Frankreich erhielt die Figur der Dame mehr Macht, was das Aufkommen starker Frauen symbolisierte. Die ersten hervorragenden Schachspielerinnen traten erst im 20. Jahrhundert auf, so dass Frauen jahrhundertelang vom Profi-Schach ausgeschlossen waren.
Müssen Sie vor einem Turnier eigentlich noch immer trainieren?
Ja, natürlich, sonst würde ich verlieren. Vor den grossen Turnieren übe ich zwei bis drei Monate.
Wer sind Ihre grossen Schachvorbilder?
Seit ich ein junges Mädchen bin, fasziniert mich Judit Polgar, die stärkste Schachspielerin aller Zeiten. Neben ihren Schachkenntnissen war sie eine hingebungsvolle Förderin von Frauenschach. Sie ist die bisher einzige Frau, die es auf die Top-Ten-Liste der weltweit besten Schachspieler geschafft hat.
Seit letztem Jahr haben Sie die französische Staatsbürgerschaft, Sie leben in Paris. Momentan ist Islamophobie auch in Frankreich ein viel diskutiertes Thema. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?
Alle Religionen und Ideologien der Welt – egal ob Islam, Marxismus, Judentum oder andere – sollten offen für Kritik sein. Das ist ein fundamentales Recht liberaler Gesellschaften. Der Begriff «Islamophobie» dient oft als Schutzschild, um sich vor Kritik abzuschirmen.
Er wird aber auch gebraucht, um diskriminierendes Verhalten gegenüber Muslimen zu kritisieren.
Der Begriff wird oft mit einer politischen Motivation benutzt. Er zielt darauf ab, Wählerstimmen zu gewinnen oder den «Islamo-leftism» in der Wissenschaft zu manifestieren.
Können Sie das ausführen?
Ich bin regelrecht erschrocken, als ich sah, dass die französischen Feministinnen die iranische Frauenbewegung nicht unterstützten. Ich habe sogar Posts gesehen, in denen sie behaupteten, «Frauen, Leben, Freiheit» sei islamophob. Das ist absurd.
Träumen Sie davon, eines Tages nach Iran zurückzukehren?
Mein Traum ist ein freies Iran. Meine Familie, meine Freunde und mein Heimatland endlich in Freiheit zu sehen. In ein solches Land würde ich gerne zurückkehren.