Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat den einst mit der Wiedervereinigung begründeten Solidaritätszuschlag für verfassungsgemäss erklärt. Damit verschiebt sich der Streit wieder auf die politische Bühne.
Der deutsche Solidaritätszuschlag («Soli») ist verfassungsgemäss, auch in seiner seit 2021 geltenden modifizierten Form: Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem am Mittwoch verkündeten Urteil festgestellt.
Mit dem Urteil wies er eine von sechs ehemaligen Bundestagsabgeordneten der liberalen FDP im Jahr 2000 erhobene Verfassungsbeschwerde zurück. Damit ist klar: Auf juristischem Weg ist diese Zusatzabgabe vorerst nicht zu beseitigen.
Keine Mindereinnahmen für den Bund
Nicht nur Steuerzahler haben das Urteil aus Karlsruhe mit Spannung erwartet. Auch für die Unterhändler von Union und SPD, die derzeit im Rahmen der Koalitionsverhandlungen um die künftige Steuerpolitik ringen, ist das Urteil von Bedeutung: Ein Wegfall des «Solis» hätte dem Bund Mindereinnahmen von derzeit über 12 Milliarden Euro pro Jahr eingebracht.
Hätte das Gericht darüber hinaus auch noch eine Rückerstattung der seit 2020 erhobenen Beträge verfügt, hätte das rund 65 Milliarden Euro gekostet – und die künftige Regierung noch vor ihrem Start in eine Haushaltskrise gestürzt.
Ursprünglich befristet eingeführt
Der «Soli» ist eine sogenannte Ergänzungsabgabe: Auf die Einkommens-, die Körperschafts- und die Kapitalertragssteuer wird ein Zuschlag von 5,5 Prozent erhoben. Eingeführt worden ist er zunächst vom Sommer 1991 bis Sommer 1992 befristet und dann wieder ab 1995 ohne zeitliche Befristung, damals noch mit einem höheren Satz. Begründet worden ist die Wiedereinführung 1995 mit den Kosten der deutschen Einheit.
Mit einer 2019 von der damaligen grossen Koalition aus Union und SPD beschlossenen Änderung («Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995») wurden die Freigrenzen für Einkommenssteuerpflichtige so stark angehoben, dass seit 2021 nur noch rund 10 Prozent der Einkommenssteuerpflichtigen den «Soli» ganz oder teilweise bezahlen müssen. Auf die Körperschaftssteuer von Unternehmen wird er weiterhin in vollem Umfang von allen erhoben.
Noch immer Mehrkosten
Die Beschwerdeführer hatten zwei Hauptargumente vorgebracht, die beide zurückgewiesen worden sind. Das erste lautete, die Weiterführung des ursprünglich mit den Kosten der deutschen Wiedervereinigung begründeten Solidaritätszuschlags sei mit dem Auslaufen des deutschen «Solidaritätspakts II» per Ende 2019 verfassungswidrig geworden, ab 2020 geleistete Zahlungen müsse der Staat zurückerstatten. Im Rahmen des Solidarpakts II flossen von 2005 bis 2019 insgesamt über 150 Milliarden Euro an die «neuen» Bundesländer und nach Berlin.
Hierzu hielten die Karlsruher Richter fest, der wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes sei bei Erlass des Gesetzes 2019 noch nicht in evidenter Weise entfallen. «Ein offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zurückzuführenden Mehrbedarfs des Bundes kann auch heute (noch) nicht festgestellt werden», heisst es in der Pressemitteilung weiter.
In den Erwägungen des Gerichts heisst es indessen auch, der Gesetzgeber sei gehalten, in gewissen Abständen zu überprüfen, ob die angenommene Entwicklung des finanziellen Bedarfs noch der Realität entspreche.
Die Richter verwiesen zudem auf ein im Verfahren vorgelegtes Gutachten, laut dem selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verblieben seien und es noch bis 2030 in bestimmten Bereichen einschlägige Belastungen des Bundeshaushalts gebe. Der Umstand, dass unter den in der mündlichen Verhandlung angehörten Ökonomen keine einheitliche Bewertung zu erzielen gewesen sei, verdeutliche, dass von einem evidenten Wegfall des Mehrbedarfs nicht auszugehen sei. Das Auslaufen des Solidarpakts II sei unerheblich, da damit nur eine konkrete Ausgestaltung der Unterstützung der neuen Länder zu Ende gegangen sei.
Ball liegt bei der Politik
Abgelehnt hat das Bundesverfassungsgericht auch das zweite Hauptargument der Beschwerdeführer, laut dem die Neuregelung zu einer Ungleichbehandlung von verschiedenen Einkommensbezügern geführt hat und damit den Gleichheitssatz des Grundgesetzes verletzt. Dem halten die Richterinnen und Richter entgegen, der Gesetzgeber sei in Anbetracht des im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzips und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Einkommenssteuerpflichtigen zu einer Abstufung berechtigt.
Zu den sechs FDP-Politikern, die die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten, zählen Christian Dürr, der voraussichtliche künftige Parteichef, und zwei ehemalige Parlamentarische Staatssekretäre im Finanzministerium, Florian Toncar und Katja Hessel. Sie hatten sich noch vor dem Eintritt der Liberalen in die Ampelregierung an Karlsruhe gewandt. Parallel zu diesem Verfahren trat die FDP auch politisch für eine Abschaffung des «Solis» durch einen Parlamentsbeschluss ein, konnte diesen aber in der «Ampel» nicht durchsetzen.
Nun liegt der Ball bei der voraussichtlichen künftigen Koalition aus Union und SPD. Sie ist sich in dieser Frage uneins.
Die Union hatte in ihrem Wahlprogramm festgehalten: «Wir schaffen den restlichen Solidaritätszuschlag ab. Er hat seine Aufgabe längst erfüllt, ist fast 35 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr zu rechtfertigen und belastet Unternehmen, Fachkräfte und Sparer.» Die SPD hingegen trat für eine Fortsetzung in der jetzigen Ausgestaltung ein.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie erklärte in Reaktion auf das Urteil, die Abschaffung des «Solis» gehöre nun in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Ähnlich äusserten sich weitere Wirtschaftsverbände. Zugleich gibt es Ideen zu einer Art Umwidmung. So argumentierte der Ökonom Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung am Mittwoch, der «Soli» auf Unternehmensgewinne solle ersatzlos abgeschafft und jener auf hohe Einkommen und Kapitalerträge in einem «Wehrbeitrag» zur Finanzierung der hohen Verteidigungsausgaben umgestaltet werden.
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