Er zeichnete nur für sich selbst. Seine Ideen auf Papier sind in Stunden fast unbewusster Träumerei entstanden. Nun sind Victor Hugos verblüffende Zeichnungen in einer Londoner Ausstellung zu sehen.
Schon als junger Mann führte der Schriftsteller Victor Hugo Reisetagebücher. Darin hielt er mit präzisem Zeichenstift Dinge fest, die ihn faszinierten: Steilküsten, kopfsteingepflasterte Strassen und architektonische Details. Später amüsierte er sich und seine Kinder mit Karikaturen, die er ihnen manchmal abends aufs Bett legte, um sie morgens beim Aufwachen damit zu überraschen.
Der bereits zu Lebzeiten legendäre Dichter schuf Zeichnungen von aussergewöhnlicher Qualität – und in grosser Zahl. Victor Hugo hinterliess rund 4000 grafische Arbeiten, von denen rund siebzig jetzt in einer eindrucksvollen Ausstellung in der Londoner Royal Academy of Arts zu sehen sind.
Hugo war früh berühmt geworden. Sein erster Gedichtband, den er 1822 als Zwanzigjähriger veröffentlichte, trug ihm eine von Louis XVIII. jährlich gezahlte Summe von 1000 Francs ein. Kurz darauf setzte er, beflügelt durch den Roman «Notre-Dame de Paris» (1831), zu literarischem Weltruhm an. Bis es zu einem tiefen Einschnitt kam. Seine Lieblingstochter Léopoldine war wenige Monate nach ihrer Hochzeit bei einem Bootsunfall auf der Seine ertrunken.
Die Neunzehnjährige ging in einer Flutwelle über Bord, der junge Ehemann starb beim Versuch, seine schwangere Frau zu retten. Ihr Vater versank in eine schwere Depression. In den Jahren nach Léopoldines Tod, von 1843 an, schrieb Hugo ein Jahrzehnt lang nur noch wenig und veröffentlichte nichts. Stattdessen zeichnete er. Er intensivierte seine Liebe zu dieser Disziplin und perfektionierte ihre Meisterschaft.
Es sind tief melancholische Blätter, voller Andeutungen an Geschichten, die nie auserzählt werden. Seine meist hingetuschten, dunklen Visionen von imaginären Schlössern, Monstern und Meereslandschaften sind ebenso poetisch wie seine Schriften. Das Wetter und die Tageszeiten spielen eine Rolle. In vielen seiner Bilder herrscht Nacht. Architektur und Landschaft waren seine Lieblingsthemen.
Exzentrische Kreativität
Immer wieder kommt Victor Hugo auf das Wasser zurück, auf kenternde Schiffe, Stürme auf dem Meer. «The Lighthouse at Casquets» (1866) ähnelt keinem Leuchtturm, sondern einer am Meer gelegenen Wendeltreppe zur Hölle. Hugo selbst nannte sich einen «homme océan», einen Mann des Meeres. Die Schau in der Royal Academy erlaubt Einblicke in das private und politische Leben des Klassikers.
Gelegentlich nutzte Hugo seine Zeichnungen auch im Kampf für seine politischen Überzeugungen, wie in seinen Bildern des gehängten John Tapner (darunter «Ecce Lex», 1854). Hugo setzte sich leidenschaftlich für die Abschaffung der Todesstrafe und der Sklaverei ein. 1861 hatte er ein Bild eines Mannes am Galgen als Druck vervielfältigen lassen, verbunden mit einem Appell an die Vereinigten Staaten gegen die Todesstrafe des Abolitionisten John Brown («John Brown», 1861).
1852 war Hugo vor dem neuen Machthaber Frankreichs, Louis Napoléon Bonaparte, den er als «Napoléon le petit» verabscheute, nach Brüssel, Jersey und schliesslich Guernsey geflohen. In Guernsey, wo er 1855 ankam, blieb er bis 1870. Er zeichnete, schrieb und lebte seine blühende, oft exzentrische Kreativität auch in der Inneneinrichtung seiner Exilresidenz aus.
Sein Haus – in winzigen Fotografien in London zu sehen – verwandelte er in einen romantischen Rückzugsort voller phantastischer Elemente. Das reichte bis zur Gestaltung eines ramponierten Spiegelrahmens, den er mit Vögeln, Ornamenten und Inschriften bemalte – auch dieses Stück ist in der Royal Academy zu sehen. Am Fenster seines Hauses auf der Insel Guernsey sitzend, beobachtete er die Strömung, «die geboren wird, vergeht, wiedergeboren wird, und die Möwen, die durch die Luft kreuzen. Die Schiffe im Wind öffnen ihre Flügel und sehen in der Ferne aus wie grosse Figuren, die auf dem Meer spazieren gehen.»
Welt der Geister
Hugo experimentierte mit Stilformen und vor allem auch mit Materialien. In einem Bild von 1850, das einen gigantischen Pilz über einer apokalyptischen Landschaft zeigt, verwendete er Tinte, Kohle, Kreide und Gouache. In anderen arbeitete er mit verlaufenden Tintenflecken, er verwendete Schablonen und collagenhafte Elemente – eine Briefmarke etwa – und seine eigenen Fingerabdrücke.
Hugo druckte mit Spitzenstoffen und zog nasse Stoffe übers Papier, um einen Regenfall anzudeuten («La tour des rats», 1847). Die Skala seiner Träumereien auf Papier variierte von winzigen Blättern bis hin zu monumentalen Formaten.
Anfang bis Mitte der 1850er Jahre nahm er an Séancen teil, und einige seiner Zeichnungen sehen aus, als habe er sich in protosurrealistischer Manier vom Unbewussten leiten lassen. Oder von der Welt der Geister, der er sich verbunden fühlte. Vielleicht, weil er früh beide Eltern verloren hatte und neben seiner Tochter Léopoldine auch alle drei Söhne. Seine einzige ihn überlebende Tochter Adèle erkrankte an Schizophrenie und lebte in einer psychiatrischen Anstalt.
Hugo hatte nie eine akademische Ausbildung als bildender Künstler durchlaufen. Und er zeichnete nicht für ein Publikum, sondern nur für sich selbst. Vielleicht deshalb entfalteten sich seine Ideen auf Papier so frei. Ganz sicher sind diese Werke zutiefst persönlich. Hugo sprach von ihnen als Nebenprodukten seines Schreibens. Er habe sie «in Stunden fast unbewusster Träumerei mit den Resten der Tinte in meiner Feder an den Rändern oder auf den Umschlägen von Manuskripten angefertigt». Seine Zeichnungen und Skizzen hatte er fast nie datiert. Das Zeichnen diente ihm als Schriftform, als direktes Ventil für seine lebhafte Phantasie, als Ausdruck für Stimmungen und als private Zuflucht.
Vincent Van Gogh liebte Victor Hugos Werke und bezeichnete sie 1890 in einer Notiz als «erstaunliche Dinge». Ihm verdankt die Ausstellung «Astonishing Things» in der Royal Academy of Arts ihren Titel. Dabei ist ungeklärt, ob Van Gogh von Hugos literarischer Arbeit sprach oder ob er seine Zeichnungen gemeint hatte, die 1888, drei Jahre nach dem Tod des Dichters, zum ersten Mal ausgestellt wurden. Zuvor hatte ihr Schöpfer sie nur engen Freunden und Familienmitgliedern gezeigt oder auch geschenkt. Und nur wenige Blätter waren zu Hugos Lebzeiten als Drucke veröffentlicht worden.
«Astonishing Things: The Drawings of Victor Hugo», Royal Academy of Arts, London, bis 29. Juni.