Seit dem Ukraine-Krieg darf Russland manche Waren nicht mehr importieren. Das muss kein Hindernis sein: Einiges im Handel der Schweiz mit exsowjetischen Ländern ist merkwürdig.
Der Krieg ist zurück in Europa – mit allen Registern. Als Russland vor knapp zwei Jahren den Angriff auf die Ukraine begann, entschloss sich der Westen, mit einem Wirtschaftskrieg zu antworten. Doch ähnlich, wie die russische Offensive nicht so erfolgreich war wie vom Kreml erhofft, haben die Sanktionen und Handelshürden nicht zum wirtschaftlichen Zusammenbruch des Aggressors geführt. Handel ist wie Wasser. Er findet einen Weg.
Auch aus der neutralen Schweiz. Sie hat sich den Sanktionen der EU gegen Russland angeschlossen und will weder zur Drehscheibe noch zum Profiteur des Wirtschaftskrieges werden. Aber es verfestigt sich der Eindruck: Russland wird weiterhin gut aus der Schweiz versorgt. Und manchmal drängt sich der Verdacht auf, dass die Wege nicht legal sind.
Handel mit Russland bleibt erstaunlich hoch
Auf den ersten Blick könnte man denken, es sei kaum etwas passiert. Die Schweiz exportierte im Jahr 2023 Güter im Wert von 2,6 Milliarden Franken nach Russland, wie Handelsdaten des Bundesamts für Zoll zeigen. Das ist nur knapp ein Fünftel weniger als 2019, im letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, welche die internationalen Handelsströme durcheinanderbrachte. Es sind sogar 2,5 Prozent mehr als 2018. Das kontrastiert zum Beispiel mit der Entwicklung in Deutschland: Die Ausfuhren aus der Bundesrepublik nach Russland sind seit Kriegsbeginn um rund die Hälfte eingebrochen.
«Dass die Schweizer Exporte relativ hoch geblieben sind, deutet darauf hin, dass entweder die Sanktionen nicht umfassend genug waren, um diese zu beeinträchtigen, oder dass es spezifische Ausnahmen gab», sagt Stefan Legge, Handelsexperte an der Universität St. Gallen (HSG).
Tatsächlich sticht eine Warengruppe heraus: Pharmaexporte. Sie kletterten 2022, im ersten Kriegsjahr, auf 1,9 Milliarden Franken. Auch 2023 waren es noch 1,7 Milliarden Franken – etwas mehr als 2019 und fast doppelt so viel wie 2018. Ein Teil des Wertanstiegs dürfte auch auf Preiserhöhungen wegen gestiegener Material- und Transportkosten zurückgehen.
Warum die russische Nachfrage nach Pharmaprodukten zugenommen hat, liegt angesichts des Krieges auf der Hand. Daraus lässt sich den Exportfirmen schwer ein Vorwurf machen: «Es wäre heikel, die Schweizer Pharmaunternehmen als Kriegsprofiteure zu bezeichnen», sagt Legge. Der Gedanke, dass mit diesen Exporten Menschenleben gerettet und Leiden reduziert werden, sollte im Vordergrund stehen. «Roche und Novartis werden ihren Gewinn wohl eher mit anderen Gütern und Märkten erzielen.»
Wappnen sich Russlands Nachbarn?
Der Ukraine-Krieg hat aber nicht nur das Geschäft der Schweiz mit Russland verändert. Schaut man auf die Exporte von Schweizer Firmen in zehn ehemals sowjetische Staaten im Umkreis Russlands, dann stellt man fest: Es tut sich einiges.
Ein wichtiger Teil des Anstiegs entfällt abermals auf Pharmaausfuhren. Das könnte mehrere Gründe haben: Möglicherweise bevorraten sich die Länder mit medizinischen Gütern, nachdem sie das Schicksal der Ukraine beobachtet haben. Moskaus Interesse an der verlorenen sowjetischen Einflusssphäre wird vielerorts mit Argwohn betrachtet. Oder die Länder stellen auf neue Lieferanten um, die ihnen zuverlässiger erscheinen. Die Schweiz könnte hier von ihrem guten Ruf profitieren.
Russland braucht Umgehungsgeschäfte
Aber manche Exporte in Russlands ehemalige Satellitenstaaten dürften einen anderen Hintergrund haben. Einige direkte Ausfuhren sind mit Sanktionen belegt. Das könnte Umgehungsgeschäfte provozieren, bei denen Güter in ein scheinbar unverdächtiges Land exportiert und von dort nach Russland weiterverkauft werden. Als solche Umschlagplätze haben Ökonomen Länder wie China und die Türkei im Verdacht. Doch angesichts der ohnehin grossen Handelsmengen mit diesen Nationen lässt sich das nur schwer erhärten.
Leichter zu erkennen sind ungewöhnliche Handelsgeschäfte mit jenen Ländern, mit denen auch eine Schweiz im Normalfall wenig handelt – eben den zehn ehemaligen Sowjetrepubliken in Russlands Umkreis. Vier von ihnen – Armenien, Weissrussland, Kasachstan und Kirgistan – bilden mit Russland sogar eine Zollunion und einen Binnenmarkt. Das eliminiert Handelsschranken, auch wenn die Länder in der Praxis weniger integriert sind als etwa die EU.
Russlands Nachbarn wollen viel mehr Schweizer Schmuck
Bedarf an neuen Handelsrouten gibt es etwa bei Luxusgütern. Deren Ausfuhr nach Russland ist verboten. Wenig verwunderlich, sind diese direkten Exporte auch sehr stark zurückgegangen. Gegenbewegungen zeigen sich jedoch bei Uhren, dem klassischen Edel-Exportgut der Schweiz. In die zehn Ost-Länder wurden 2023 Uhren aus der Schweiz im Wert von 86 Millionen Franken geliefert – 45 Prozent mehr als 2019.
«Diese Entwicklung ist tendenziell verdächtig», kommentiert Ronny Oberholzer, der mit Legge am Institut für Law und Economics der HSG forscht. Allerdings ist die absolute Zunahme deutlich geringer als der Rückgang der Uhrenexporte nach Russland. Wenn es sich hier um Umgehungsgeschäfte handelt, wird der Handel also längst nicht im vollen Ausmass über die ehemals sowjetischen Nachbarstaaten umgeleitet.
Klarer ist die Lage bei anderen Luxusgütern: Schweizer Bijouterie und Juwelierwaren sind auf einmal viel begehrter, besonders in Kasachstan. Insgesamt importierten die zehn Ost-Länder vergangenes Jahr solchen Schmuck im Wert von 47 Millionen Franken – fast fünf Mal so viel wie 2019. Diese Zunahme entspricht weitaus mehr dem signifikanten Rückgang bei den Exporten nach Russland.
Rechnet man grundsätzlich alle Edelmetalle zu den Luxusgütern, sind nicht nur die Verkäufe nach Russland besonders deutlich eingebrochen. Jene an die zehn Ost-Länder sind auch auf fast 400 Millionen Franken im vergangenen Jahr geradezu explodiert. Allerdings geht ein grosser Teil auf einen Verkauf von reinem Gold nach Tadschikistan zurück. Das ist zwar bemerkenswert, muss aber nicht im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg stehen.
Schweizer Ausrüstung für die Industrie ist begehrt
Allerdings: Mit Uhren und Schmuck lassen sich keine Kriege gewinnen. Anders ist es mit Maschinen, Anlagen und optischen Geräten, die je nach Machart für die Rüstungsproduktion eingesetzt werden können. Diese Präzisionsausrüstung ist eine Stärke der Schweizer Industrie und war bei russischen Kunden gefragt. Auch hier sind die direkten Exporte seit dem Krieg eingebrochen.
Im Gegenzug sind diese Schweizer Geschäfte mit den Ost-Ländern stark gestiegen – sofern man Weissrussland ausklammert. Das Land ist ein grosser industrieller Standort, sehr eng mit Russland verbunden und unterstützt den Kreml beim Krieg gegen die Ukraine. Der Schienenfahrzeughersteller Stadler Rail unterhielt dort ein Werk, das inzwischen den Betrieb eingestellt hat. Entsprechend gross waren die Exporte bis Kriegsbeginn, sie wurden aber durch dessen Folgen stark dezimiert.
Ohne die Verkäufe nach Minsk exportierten Schweizer Firmen im Jahr 2023 rund 80 Prozent mehr optische Geräte in die verbliebenen neun Ost-Länder als 2019 – insgesamt im Wert von 48 Millionen Franken. Auffällig sind die Anstiege bei Kasachstan und Armenien.
Ein wichtiger Teil der Zunahme geht auf eine verdächtige Warengruppe zurück: Theodoliten und Tachymeter. Das sind Messinstrumente zur Bestimmung von Winkeln und Entfernungen. Einsetzen lassen sie sich unter anderem auch zur Kartierung und zur Zielberechnung, etwa für die Flugbahn von Mörsergranaten.
Sofern man von direkten Substituten für ausgefallene Exporte nach Russland ausgehe, seien im Wesentlichen diese optischen Geräte neben der bereits erwähnten Bijouterie als mögliche Umgehungsgeschäfte relevant, kommentiert Stefan Legge.
Demgegenüber kletterten die Ausfuhren von Maschinen und Anlagen in die neun Ost-Länder seit 2019 um 30 Prozent auf 143 Millionen Franken. Bei Kasachstan bewegen sie sich seit Kriegsbeginn auf anhaltend höherem Grundniveau. Allerdings: «Das reicht nicht als Evidenz, dass diese Länder nun als Destinationen für Maschinen dienten, die zuvor nach Russland verkauft wurden», so der Handelsexperte Oberholzer. Dafür ist der Anstieg absolut noch zu klein.
Vielleicht ist er so klein, weil er begrenzt wird. Die Ausfuhr von Maschinen, die auch in der russischen Rüstungsindustrie verwendet werden können (sogenannte Dual-Use-Güter), ist seit Kriegsbeginn untersagt. Auch Geschäfte mit anderen Ländern müssen darauf geprüft und bewilligt werden. Das obliegt dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).
«Zahlreiche Anfragen der Industrie für die Lieferung von Werkzeugmaschinen nach Usbekistan und Kasachstan wurden negativ beurteilt», teilt das Seco mit. Dies sei «aufgrund der fehlenden Plausibilität für die Endverwendung in diesen Ländern» geschehen. Im Fokus der Kontrollen stünden ferner Exporte nach Armenien, Georgien und Kirgistan, so das Seco weiter. Ebenfalls genau beobachtet werden Geschäfte unter anderem mit der Türkei, China und den Emiraten.
Hinweise auf solche Umgehungsgeschäfte gibt es auch aus Deutschland. Dort haben sich die Exporte in ehemals sowjetische Nachbarländer Russlands seit Kriegsbeginn zeitweise mehr als verdoppelt. Das hat das Statistische Bundesamt festgestellt. Ausfuhren von Maschinen kletterten stark, aber auch von chemischen Erzeugnissen und besonders von Autos und Autoteilen – den klassischen Stärken der deutschen Industrie. Die Lehre daraus: In einem Wirtschaftskrieg ist die Front überall.