Ist es für eine junge Frau überhaupt noch möglich, gelassen dreissig Jahre alt zu werden? Ein kulturkritisches Protokoll.
«Hast du schon das neue natürliche Botox ausprobiert?», werde ich morgens als Erstes gefragt, als ich die Instagram-App öffne. Habe ich nicht. Oder vielleicht: Noch nicht? In ein paar Wochen werde ich dreissig Jahre alt – und offenbar bin ich, wie mein Algorithmus längst erkannt hat, ziemlich anfällig für Schönheitsroutinen aller Art, die gerade inflationär auf Social Media kursieren. Ständig wird mir etwas Neues vorgeschlagen, das ich tun soll – um besser auszusehen, was heute vor allem bedeutet: um jünger auszusehen.
Zwanzig Minuten Gesichts-Yoga, Selleriesaft zum Frühstück, etwas Wandpilates und zehn Stunden Schlaf – habe ich alles schon probiert. Auf dem Weg zur Arbeit scrolle ich durch Tiktok-Videos von jungen Frauen, die ihr Gesicht morgens in ein Eiswürfelbad tauchen und über Nacht ihre kaum sichtbaren Stirnfalten mit Kinesiotapes festkleben. Ja, glauben Sie mir, «face taping» ist gerade ein Riesenhit.
Mich überrascht meine Faszination für diese Schönheitstrends selbst. Bisher habe ich mich nie gross für Beauty interessiert, weiss weder, wie man Eyeliner anständig zieht, noch, wie man Lidschatten richtig aufträgt. Schmink-Tutorials, wie sie früher auf Youtube populär waren, sind mir handwerklich zu anspruchsvoll. Aber um aufwendige Make-up-Techniken geht es längst nicht mehr. Vorbei ist der Look der 2010er Jahre, als Kim Kardashian propagierte, sich Schichten von Foundations ins Gesicht zu streichen, und damit den «Countouring»-Trend auslöste. Und junge Frauen aussahen wie künstliche Kardashian-Klone.
Mit Natürlichkeit hat das wenig zu tun
Heute sollen und wollen Frauen natürlich schön sein. Am besten ganz ohne Make-up – oder zumindest ohne sichtbares. So wie die 57-jährige Pamela Anderson, die seit geraumer Zeit vermeintlich ungeschminkt über den roten Teppich schreitet. Oder die 25 Jahre jüngere Pop-Sängerin Charli XCX, die noch bis vor kurzem kein Geheimnis daraus machte, Botox und Filler zu verwenden.
Jetzt aber verkündete die 32-Jährige ihren Fans auf Instagram, sie finde diese künstlichen Aufpolsterungen «kind of over now». Was nicht heisst, dass die Britin fortan nichts mehr an sich machen lässt. Doch schwärmt sie neuerdings vom eingangs erwähnten «natürlichen Botox», das sich im Fachjargon «polynucleotides» nennt. Statt des Nervengifts Botulinumtoxin ist es Lachssperma, das unter die Haut injiziert wird. Meist rund um die Augenpartie, weil es die Produktion von Kollagen und Elastin ankurbeln und so die Haut straffen soll. Charli XCX vergleicht es mit «deep vitamins» – und wie sie das sagt, klingt es fast schon gesund.
Mit Natürlichkeit hat all das aber wenig zu tun. Die Inhaltsstoffe der Produkte muten vielleicht organischer an, doch führt der Weg zum angestrebten Look mehr denn je über teure Crèmes, aufwendige Routinen – und eben: Spritzen und Skalpell. Weltweit nehmen Beauty-Eingriffe zu. Vor allem im Gesicht.
Sprechen wir von Schönheitsnormen, geht es immer mehr auch um die Form von Nase, Augen und Mund. Insbesondere junge Frauen blicken mit brutaler Härte auf ihr Spiegelbild – und sehen oft ein verzerrtes Bild. Im medizinischen Jargon spricht man von einer körperdysmorphen Störung («body dysmorphic disorder», kurz BDD): Betroffene nehmen sich als hässlich und entstellt wahr. Meistens ist es das Gesicht, das sie stört, weshalb auch von «Gesichtsdysmorphie» die Rede ist.
Wie sich das zeigt? Zum Beispiel anhand von 50 000 gespeicherten Selfies auf dem Smartphone. Die 20-jährige Nika Motiie hat mit dem New Yorker Magazin «The Cut» gesprochen und erzählt, wie sie mithilfe der Fotos immer und immer wieder ihr Gesicht analysiert, Pore für Pore, wie eine Restauratorin ein altes Kunstwerk. Um zu verstehen und zu kontrollieren, wie sie auf andere wirke, so beschreibt sie ihre Obsession.
Das «Instagram face» hat sich durchgesetzt
«Unser Gesicht passt perfekt auf den Handybildschirm, das Selfie passt perfekt in den Hochkant-Instagram-Feed, und die sozialen Netzwerke passen perfekt in das Werbekonzept der Kosmetikindustrie», schreibt die deutsche Autorin Rabea Weihser in ihrem neuen Buch «Wie wir so schön wurden». Weil uns Plattformen wie Tiktok nicht nur zeigen, wie wir aussehen, sondern auch, wie wir aussehen könnten.
Es gibt diesen einen Filter, den ich ausprobierte. Da wurde mir ein virtuelles Raster übers Gesicht gelegt. Eine eingezeichnete Linie gab mir dezent zu verstehen, dass meine Nase etwas zu schräg ist, meine Augen zu klein, die Stirn zu hoch und das Kinn zu lang. Kurz, ich habe kein perfekt proportioniertes Gesicht. Und die Botschaft, die mitschwingt, war, dass ich daran chirurgisch einiges anpassen könnte. Was genau, zeigen andere Filter, die direkt retuschieren: Ein Bild, ein Klick – schon sehe ich mich auf meinem Display mit dieser hübschen kleinen Stupsnase, wie sie all jene haben, die sie haben operieren lassen.
«Zum perfekten Gesicht gehört eine makellose Haut. Unreinheiten, sogar Poren gehören wegradiert.»
Man sieht diese «Instagram faces», wie die optimierten Gesichter genannt werden, längst auch auf den Strassen, im Pilates-Studio oder im Café um die Ecke. Die mit Filtern bearbeiteten Bildern werden zur Eins-zu-eins-Vorlage für Schönheitseingriffe – Chirurgen berichten, wie Patientinnen damit zu ihnen kämen. Laut der Aesthetics-Pallas-Klinik, die mehrere Standorte in der Schweiz hat, stellen bereits Minderjährige Anträge für Beauty-Eingriffe – welche das Ärzteteam ablehnt: Eine Kundin müsse mindestens 18 Jahre alt sein, wenn sie sich etwa die Lippen mit Fillern aufspritzen lassen wolle.
Jünger werden offenbar auch diejenigen, die sich einem Facelift unterziehen. Waren es früher Frauen um die 60, geht die Tendenz heute eher in Richtung 30, 40. Ärzte in Amerika erklären sich die Verjüngung auch mit der Zunahme von Abnehmspritzen wie Ozempic. Denn rascher Gewichtsverlust kann zu einem eingefallenen Gesicht führen, und das wiederum lässt einen alt aussehen. Hierzulande bietet die Zuger Schönheitsklinik Sweet Skin bereits ein Treatment gegen sogenannte «Ozempic-Gesichter» an: Versucht wird, die Haut mittels Microneedling und Radiofrequenz zu glätten. Auch in Baar sind die Kundinnen häufig erst knapp dreissig – und buchen Behandlungen, um die Spuren des Alterns schon vor deren Aufkommen zu beseitigen.
So perfekt wie eine Porzellanpuppe
Denn zum perfekten Gesicht gehört schliesslich auch eine makellose Haut. Unreinheiten, sogar Poren gehören wegradiert. Auch ich glaube mittlerweile, meine Haut dürfe keine Rötungen und Unreinheiten mehr vorweisen. Vor dem Zu-Bett-Gehen streiche ich mir neuerdings eine Mikroneedlingcrème ins Gesicht. Sie sorgt zwar für spürbar glattere Haut, schmerzt aber umso mehr. Weil sich das Auftragen anfühlt, als würden Tausende kleiner Nadelstiche mein Gesicht malträtieren. Aber dafür wird mir diese natürlich glänzende Haut versprochen, die auch «Glazed Donut Skin» genannt wird.
Das Gesicht so schön wie das einer Porzellanpuppe. So sahen die Models an der letztjährigen Modenschau von John Galliano für Margiela aus. Die Make-up-Artistin Pat McGrath kreierte den Look, der diesen Trend ad absurdum führte, und natürlich dauerte es nicht lange, bis die Visagistin das Produkt in Form einer Maske auf den Markt brachte. Mit einem kleinen Haken: Wer die Maske aufträgt, wird wahrhaftig zur Puppe. Laut Testberichten klebt sie jegliche Mimik fest, fast, wie wenn zu viel Botox die gesichtseigenen Charakterzüge verschwinden lässt.
Vielleicht ist das die Hoffnung, die bleibt. Wenn durch KI noch mehr Lebensbereiche normierter und ausdrucksloser werden, wächst womöglich wieder der Wunsch nach Einzigartigkeit. Zumindest ist es das, was ich mir einrede, während ich mich morgens im Spiegel betrachte, Sonnencrème auftrage und mit den Fingern die Falten auf meiner Stirn glattstreiche. Denn was ich wirklich nicht will, ist Lachssperma in meinem Gesicht